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A blede Gschicht

Am 31. Jänner 1818 spielte sich in Wien ein Ereignis ab, das einen Mythos festigen sollte, der bis heute nicht auszurotten ist.

An diesem Tag wurden drei junge Männer aus der Provinz vor dem Neutor auf dem Glacis öffentlich gehängt. Es handelte sich um Ignaz Stangl, Jakob Fähding und Johann Georg Grasel. Der erste der drei erlebte seine Hinrichtung wahrscheinlich nicht mit, er verlor bereits beim Ausziehen der Jacke das Bewusstsein. Auch der zweite Delinquent war fast ohnmächtig, als es für ihn ans Sterben ging. Lediglich Grasel erfasste das Geschehen bei vollem Bewusstsein. Er legte allein seinen Rock ab, küsste den anwesenden Priester und dessen Kruzifix und trat selbst unter den Galgen. Als er die Schlinge bereits um den Hals hatte, bat er den Henker noch um einen Augenblick, sah auf die anwesende Menschenmenge hinab und sagte angeblich: "Jessas, so vü Leit!" Dann wurde die Hinrichtung vollzogen und Johann Georg Grasel starb.

Allein diese kurze Schilderung, die auf zeitgenössischen Zeitungsberichten beruht, zeigt, weshalb von jenem Mann eine Faszination ausging, die ihm selbst unter Umständen in all ihrem Umfang gar nicht bewusst war. Sein Auftreten, seine Intelligenz, sein Selbstbewusstsein und auch seine Selbstreflexion waren außergewöhnlich. Er war schon zu Lebzeiten zu einer Legende geworden. Und genau das war der Umstand, der ihm zum Verhängnis werden sollte.

Jakob Fähding, Johann Georg Grasel und Ignaz Stangel auf der "Schandbühne" auf dem Hohen Markt vor ihrer Hinrichtung am 31. Jänner 1818.
Jakob Fähding, Johann Georg Grasel und Ignaz Stangel auf der "Schandbühne" auf dem Hohen Markt vor ihrer Hinrichtung am 31. Jänner 1818.

Weshalb ein juveniler Gewohnheitsverbrecher, der seine brutalsten Taten im Vollrausch verübte, zum "Robin Hood des Waldviertels" stilisiert werden konnte, habe ich schon in einigen anderen Artikeln dargelegt. Hier die jeweiligen Links für alle, die zu ihm noch mehr lesen wollen:

  • Wie die Beschreibungen, die er von seinen "Mitverflochtenen" vor Gericht gab, die Lebenswelt der gesellschaftlichen Randgruppen im Waldviertel lebendig werden lässt, ist Inhalt meines ersten Textes, in dem er erwähnt wird.
  • Meine Nachforschungen zu einem Haus, das er der Mutter seines Kindes kaufte, werden in einem anderen Artikel behandelt.
  • Kurz wird er auch im Artikel über die ehemaligen Wasenmeistereien des Waldviertels erwähnt, deutlich ausführlicher in dem Beitrag, in welchem ich auf die Parallelen seiner Überfälle zu heutigen Verbrechen eingehe.
  • Zum bis dato letzten Mal habe ich mich im Juni 2020 mit ihm beschäftigt - und zwar mit seinem in mancher Hinsicht bemerkenswerten Gedächtnis.

Wieso aber bin ich der Meinung, dass ihn sein Ruf und weniger seine Taten an den Galgen gebracht haben?

Dazu muss ich ein wenig ausholen und über ein Verbrechen berichten, das wahrscheinlich den Wendepunkt im Prozess des Johann Georg Grasel darstellt, ein Verbrechen, das er vor Gericht immer als (wie man vielleicht zu seiner Zeit auch schon gesagt hätte) "blede Gschicht" dargestellt hat, als Unfall - das ihm aber dann doch als Mord angelastet wurde. Auch wenn sogar das zuallerletzt unerheblich sein sollte.

 

Begeben wir uns gedanklich zurück in den Mai des Jahres 1814, Grasel war gerade 24 Jahre alt geworden und trotz seiner Jugend auf dem Höhepunkt seiner Räuberkarriere, eine nicht nur in Verbrecherkreisen bereits legendäre Figur. Manche seiner Kumpanen (wie etwa Ignaz Stangl) waren bereits gefasst, nur er selbst nach wie vor flüchtig. Die Vorgehensweise bei Grasels Taten war stets eine ähnliche: Er drang mit Komplizen in die Häuser möglichst reicher, aber auch möglichst wehrloser Personen ein, verprügelte diese äußerst brutal, um die Verstecke diverser Wertgegenstände zu erfahren, und flüchtete anschließend mit der Beute so schnell, wie er gekommen war. Manche Opfer blieben nach diesen Überfällen behindert oder starben sogar einige Zeit später an den Folgen der Misshandlungen, was jedoch mit den Mitteln der damaligen Medizin nicht immer einfach zu beweisen war. Langer Rede kurzer Sinn: Grasel stellte definitiv nicht das dar, was man gemeinhin unter einem "edlen Räuber" versteht.

Auch der Überfall in Zwettl sollte nach dem oben genannten Schema ablaufen.

Mit dabei waren drei seiner bewährtesten Kumpane: Jakob Fähding (Spitzname "Gams"), Grasels Cousin Martin Fuchs (auch "Einhandler", da er einarmig war) und Paul Heidinger (nach seinem Beruf als Kesselflicker "Klampfererwastel" genannt). Zusätzlich erhielten sie Unterstützung durch den mit 51 Jahren etwa doppelt so alten Landstreicher Mathias Dangl (Spitzname "Zottel" oder "Schinderhiesel"). Sie trafen sich im dortigen Halterhaus, also dem Haus der Zwettler Hirten, der Unterkunft von Heidingers Eltern. Heute steht an dieser Stelle das Haus Gartenstraße 26.

Der Autor an der Stelle des Treffpunkts der Räuberbande. Die rote Nase ist nicht dem Zwettler Bier, sondern den Jännertemperaturen geschuldet.
Der Autor an der Stelle des Treffpunkts der Räuberbande. Die rote Nase ist nicht dem Zwettler Bier, sondern den Jännertemperaturen geschuldet.

Dort gab ihnen der ortsansässige Webermeister Kaspar Pomeisl die Informationen, die sie für den Einbruch brauchten. Er wohnte an jener Stelle, wo heute das Haus Florianigasse 3 steht. Der 43-Jährige, der mit seiner Familie in größter Armut lebte und sich durch die einseitige Arbeit oder einen Unfall am Webstuhl bereits ein Fußleiden zugezogen hatte (hier gehen die Quellen auseinander), berichtete von der 66-jährigen Anna Maria Schindler, einer Nachbarin, die einige Häuser weiter auf der anderen Straßenseite lebte. Die heutige Adresse dieses Hauses, das leider auch nicht mehr existiert, lautet Bürgergasse 3. Schindler galt in Zwettl als reich, ihr verräterischer Nachbar schätzte die erzielbare Beute auf 700 bis 800 Gulden in Silber. Diese Frau hatte sieben Jahre zuvor einen bedeutend jüngeren Mann geheiratet, der aber einen so liederlichen Lebenswandel geführt hatte, dass er vom Magistrat der Stadt Zwettl zu Besserungszwecken zwangsweise zum Militär gesteckt worden war. Man sieht, die Gesetzeslage damals war eine etwas andere als heute. Dieser Umstand wird in der vorliegenden Geschichte noch eine gewichtige Rolle spielen.

Das ehemalige Haus der Anna Maria Schindler (Quelle: zwettl.gv.at)
Das ehemalige Haus der Anna Maria Schindler (Quelle: zwettl.gv.at)

In der Nacht machte sich die Bande zum Haus der Anna Maria Schindler auf. Um nicht vorzeitig entdeckt zu werden, vergifteten die Einbrecher den Nachbarshund und stiegen um etwa 23 Uhr in das Haus ein. Sie verhängten die Fenster, zündeten Kerzen an und fesselten wie üblich die Hausbesitzerin. Diese jedoch wehrte sich nach Leibeskräften, sie schrie und schlug um sich. Dann überstürzten sich die Ereignisse - und konnten bis heute nicht restlos geklärt werden.

Das traurige Ergebnis des Überfalls war auf alle Fälle, dass der Gerichtsarzt am Vormittag des Folgetages nur mehr den Tod der Anna Maria Schindler feststellen konnte, die im Keller des Hauses gefunden worden war. Er konstatierte verschiedene Verletzungen, zum Tode hatten aber drei schwere Kopfwunden geführt. Bis zuletzt blieb ungeklärt, wer die Frau wie getötet hatte. Grasel behauptete vor Gericht hartnäckig, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe: Schindler habe so laut geschrien, dass er sie auf Fähdings Geheiß in den Keller schleppen wollte. Dabei sei er mit ihr die Kellertreppe hinuntergestürzt, wodurch sie sich die tödlichen Verletzungen zugezogen habe.

Die Einbrecher erbeuteten allerdings deutlich weniger, als sie gehofft hatten: nur etwa 100 Gulden in Silber und 130 Gulden in Banknoten, einige Kleidungsstücke und Bettwäsche. Davon erhielt Pomeisl als Tippgeber elf Gulden, wovon er nicht allzu viel hatte: Er wurde aufgrund eines Zettels mit seinem Namen, der am Tatort gefunden worden war, sowie seinen durch die Behinderung markanten Fußspuren rasch gefasst und zu zwölf Jahren Kerker verurteilt. Die Quellen verraten leider nicht, was mit seiner Familie geschah, zu deren Wohl er sich ja mit den Verbrechern eingelassen hatte. Apropos: Er dürfte gar nicht gewusst haben, mit wem er sich da zusammengetan hatte - die Verhörprotokolle lassen darauf schließen, dass Pomeisl den Namen Grasel gar nicht gekannt haben dürfte. Eine weitere Ironie des Schicksals.

 

In der Bildmitte sieht man den Passauer Turm, das ehemalige Stadtgefängnis, in dem der unglückliche Kaspar Pomeisl nach seiner Ergreifung inhaftiert wurde.
In der Bildmitte sieht man den Passauer Turm, das ehemalige Stadtgefängnis, in dem der unglückliche Kaspar Pomeisl nach seiner Ergreifung inhaftiert wurde.

Grasel und die anderen konnten vorerst unbehelligt entkommen. Erst bei den Verhören des Kopfs der Bande kamen die Details der Tat Stück für Stück ans Licht - bis auf den Umstand, wie Anna Maria Schindler denn nun genau zu Tode gekommen war.

Über 200 Straftaten wurden Johann Georg Grasel und seinen Komplizen zur Last gelegt, der Prozess beschäftigte die zuständigen Behörden jahrelang.

 

Aber wieso? Die Sache war doch klar: Der Mann war ein Verbrecher. Er gestand in den Verhören unzählige Taten - Überfälle, Einbrüche, Diebstähle, Körperverletzungen. Weshalb machte man mit ihm nicht (wortwörtlich) kurzen Prozess? Ganz einfach: Grasel schien die Gesetzeslage trotz seines Analphabetentums recht genau zu kennen. Wann immer ihm vorgeworfen wurde, ein Tötungsdelikt begangen zu haben - und de facto gingen wahrscheinlich mehrere auf seine Rechnung - plädierte er auf Notwehr, Unzurechnungsfähigkeit (wegen schwerer Trunkenheit) oder eben wie im Fall Schindler auf einen Unfall. Und das durchaus eloquent und rhetorisch geschickt. Er schaffte es immer wieder, dem Gericht keinen handfesten Grund für seine Hinrichtung zu liefern. Da nutzte es auch wenig, dass sein Komplize Fähding ihn bezichtigte, die Zwettler Hausbesitzerin vorsätzlich mit einer Eisenstange erschlagen zu haben. Bei einer Gegenüberstellung nahm er diese Aussage allerdings netterweise wieder zurück und stützte so die Unfallversion. Ja, es geht nichts über gute Freunde.

 

Nur, letzten Endes wurde Grasel ja doch hingerichtet. Was war geschehen?

Die Länge des Prozesses - Johann Georg Grasel saß immerhin über zwei Jahre teilweise angekettet in Untersuchungshaft - war darin begründet, dass es damals zwei verschiedene Gerichtszuständigkeiten gab, je nachdem, ob es sich beim Angeklagten um einen Zivilisten oder um einen Soldaten handelte. Einem Zivilisten musste ein Mord nachgewiesen werden, um ihn hinrichten zu können, bei einem Soldaten (auch einem Deserteur) reichte dafür ein Raub durchaus.

Genau da ergab sich ein Problem: Grasel war offiziell nie Soldat gewesen. Er hatte sich jedem Einberufungsbefehl durch Abtauchen entzogen oder war bald wieder desertiert, noch ohne den Fahneneid geleistet zu haben. Genaugenommen war er also Zivilist. Oder nicht? Oder doch Soldat? Oder wer? Oder was?

Johann Georg Grasels Pech war allerdings, dass das Verfahren gegen ihn und seine Komplizen gemeinsam geführt wurde - und diese waren nun einmal eindeutig Deserteure, vollwertige Soldaten, die zuvor auch schon den Fahneneid geleistet hatten. Nur konnte man natürlich nicht die Handlanger des berühmt-berüchtigten "Räuberhauptmanns" mit großem Getöse aufknüpfen und ihren Anführer milder bestrafen. Wie hätte denn das ausgesehen?

Somit entschied letztendlich der Hofkriegsrat als oberste Instanz in jener Sache: Grasel sei Soldat, Fahneneid hin oder her, nachweisbarer Mord hin oder her, der Mann müsse selbstverständlich mit seinen Komplizen gehängt werden.

 

Mitgefangen, mitgehangen.

Wortwörtlich.