Nur vier Ziffern

Mit dem Schreiben ist das so eine Sache.

Manchmal möchte man etwas zu Papier (oder zu Bildschirm) bringen, findet aber kein Thema, das es wert wäre, in Worte gegossen zu werden.

Und manchmal ist es umgekehrt: Da will man eigentlich gar nichts schreiben, stolpert aber vollkommen unversehens über eine Idee, sodass man nicht anders kann, als sich vor die Tastatur zu setzen und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen.

Genau so war es beim vorliegenden Text. Der wollte einfach zur Welt kommen.

Schuld daran war das gänzlich unromantische Zusammentreffen eines Fotos und eines Buches in meiner Gegenwart.

Um welches Foto und um welches Buch es sich dabei handelt, erfährt man in den folgenden Zeilen, also der bereits erwähnten Spontangeburt.

Bitteschön:

 

Hörmanns bei Litschau ist für die meisten Menschen nicht unbedingt die Art von Ort, die sich unauslöschlich ins Gedächtnis prägt. Ein paar Neubauten, ein paar verfallende Gebäude, das alte Brauhaus, das kleine, abseits gelegene Schlösschen, nichts Spektakuläres.

Doch was ist schon spektakulär?

Liegt das Spektakuläre nicht ebenso wie die Schönheit im Auge des Betrachters?

Und tut das denn nicht weh?

Nein, ganz ernsthaft geschrieben: Manchmal stößt man auf Kleinigkeiten, die man nicht übersieht, die sich aus irgendeinem Grund einprägen, beachtet werden wollen. Eine solche Kleinigkeit war in meinem Fall ein im Internet gefundenes Handyfoto einer geschnitzten Jahreszahl auf dem Deckenbalken eines Holzhäuschens im besagten Hörmanns. 1813.

Als gelernter Mitteleuropäer verbindet man dieses Jahr wohl am ehesten mit der Völkerschlacht bei Leipzig. Sie dauerte zwar nur drei Tage lang, war aber mit über 90 000 Toten und Verwundeten mit Sicherheit die blutigste Schlacht des 19. Jahrhunderts. Auch hatte sie politisch weitreichende Folgen: Napoleons Vorherrschaft über Europa war nach ihr gebrochen.

Foto von Thomas Bajer
Foto von Thomas Bajer

Ob die Erbauer des Hörmannser Häuschens (ihre Initialen "M - S" finden sich auch auf dem Balken) an diesem Markstein der europäischen Geschichte Anteil nahmen oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis. Möglich wäre durchaus, dass sie Angehörige hatten, die für das kaiserliche Heer rekrutiert worden waren. Aber hätten sie das Todesdatum ihres Sohnes in den Dachbalken des neu errichteten Hauses geschnitzt? Als Vater würde ich das spontan verneinen. Aber was weiß ich mit meinen Ansichten des 21. Jahrhunderts schon von väterlichen Gefühlen des frühen 19. Jahrhunderts?

 

Auf alle Fälle stehen die Schatten der kleinen Leute dieser geschnitzten Zahl näher als die Geister des französischen Kaisers, des schwedischen Kronprinzen oder des russischen Zaren. Ein Waldviertler Handwerker, vielleicht sogar der Erbauer selbst, hatte sie in das Holz geschnitten. Kein gänzlich ungebildeter Mensch, denn offenbar beherrschte er Zahlen und Buchstaben, damals trotz bestehender sechsjähriger Unterrichtspflicht keine Selbstverständlichkeit.

 

Einer von denen, die durch das (zugegeben weit geknüpfte) soziale Netz des frühen 19. Jahrhunderts gefallen waren, war ein Verbrecher, der das einst neu errichtete Holzhäuschen recht wahrscheinlich schon im Vorbeiwandern gesehen haben dürfte. Der Ruf dieses Mannes drang damals bereits bis in die entfernte Hauptstadt Wien vor, die Abschriften der Akten seines Prozesses, welcher mit der Hinrichtung durch den Strang auf dem Wiener Glacis endete, füllen die 770 Seiten des Buches, das in jenem Moment vor mir auf dem Tisch lag, als ich zufällig auf das besagte Handyfoto der Jahreszahl stieß.

Der Name des Mannes ist Johann Georg Grasel.

Seine Lebensgeschichte habe ich bereits in meinem Buch "Nordwandern" umrissen, möchte also hier gar nicht näher darauf eingehen. Im Februar 1814 brach Grasel laut der Verhörprotokolle beim Krämer Paul Friedrich in Litschau ein und auch früher wie später ist seine Anwesenheit in der Gegend immer wieder dokumentiert.

Quelle: www.derbernold.com
Quelle: www.derbernold.com

Doch weniger der prominente "Räuberhauptmann" erweckte in diesem Zusammenhang meine Neugier, viel mehr interessierte mich, wie man sich denn die Personen vorzustellen hatte, von denen das besagte Häuschen errichtet wurde. Wie kleideten sich die Menschen damals, wie gaben sie sich?

Hierfür fanden sich gegen Ende der Verhörmitschriften einige äußerst interessante Hinweise. Natürlich beschrieb Johann Georg Grasel, als er nach seinen Kumpanen, Helfern und Hehlern gefragt wurde, die Bevölkerungsschicht, der er selbst entstammte - und das war die niedrigste. Doch auch Bauern, Handwerker oder Tagelöhner kleideten sich wohl nicht viel anders.

 

Lassen wir Grasel aber selbst sprechen:

 

Der Michael Fischer ist ein Mensch von ungefähr dreißig Jahren, klein, untersetzt, hat ein volles, glattes Gesicht, blaue Augen, blonde Haare und einen ebensolchen Backenbart. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er eine braune Pelzjacke getragen, die innen mit schwarzem Fell gefüttert war, dunkle, lange Hosen und Stiefel, ein schwarzseidenes Halstüchel und eine weiße Schürze um den Leib, wie sie die Fleischhacker tragen. Er hat einen normalen runden Hut und eine Schlafhaube darunter. Manchmal geht er auch als Klampferer (Kesselflicker) gekleidet, weil er dieser Beschäftigung auch nachgeht. Übrigens fehlen ihm an der rechten oder linken Hand der Zeige- und der Mittelfinger zur Hälfte, welche ihm seine Geliebte Luisl selbst abgehackt hat, damit er untauglich ist. Sie hat sich auch angeboten, mir gleich einen Finger abzuhauen, damit ich nicht so leicht zu erkennen wäre. ...

 

Das Weib des Fähding, das Elisabeth heißt, muss auch etwa dreißig Jahre alt sein. Sie ist groß, mager, hat ein ziemlich gebräuntes, rundes, glattes Gesicht, schwarze Haare, auch solche Augen und eine stumpfe, kleine Nase. Sie spricht starken österreichischen Dialekt und hat weiße - und zwar noch alle! - Zähne. ...

 

Der Putt ist ein Mensch von ungefähr dreißig oder vierzig Jahren, mittelmäßig schlank. Er hat ein dunkles Gesicht wie die Zigeuner, schwarze Haare und Augen. Er kleidet sich modern, nämlich mit einem blauen Spenzer, wie ihn die Gerichtsdiener tragen. Er spricht schlechtes Deutsch, Ungarisch kann er besser. ...

 

Die Hannerl, nämlich Johanna Dangl, wird so einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt sein, mittelgroß, untersetzt. Sie hat ein pickeliges Gesicht, schwarze Augen und Haare und kleidet sich wie ein Bauernmädchen. Sie hält sich beim Gerichtsdiener Martin Gall in Thaya auf, weil dessen Weib verrückt ist. ...

 

Der Ferdinand Fischer ist ein Mensch von vierzig Jahren, sehr groß. Er hat ein dunkles, glattes Gesicht, braune Augen, schwarze Haare, eine mittlere Nase und es fehlt ihm an der rechten Hand der Zeigefinger. Er trägt eine gewöhnliche dunkelbraune Bauernjacke, eine kurze Hose aus schwarzem Leder, blaue Baumwollstrümpfe, Schuhe, einen runden Hut und darunter eine Schlafhaube. Er hat seine Klampferer-Kraxn (Werkzeugtrage) bei sich und ist ein Deserteur. ...

 

So ginge es noch lange weiter, der gefangene Räuber beschrieb bereitwillig alle, die ihm der Richter nannte.

Er wusste, hätte er die Mitarbeit verweigert, wären Essensentzug und Stockschläge die Folge gewesen. Und Grasel war nicht dumm, ihm war sehr klar, dass er nichts mehr zu verlieren hatte.

 

Bei der Lektüre der Verhörprotokolle erstehen sie wieder, die Menschen, die einst das Waldviertel bevölkert haben. Menschen, deren Biografie ihr Aussehen ebenso gestaltet hat, wie die Zeit, in der sie gelebt haben: viele blatternnarbig, oft mit fehlenden Gliedmaßen, nach heutigen Maßstäben ungepflegt und schmutzig. Wohl auch die gesellschaftlich Anerkannteren.

Doch es waren Menschen mit Hoffnungen und Träumen, die jeden Tag nutzten, ihr Leben zu leben, für sich und ihre Familie, ebenso wie wir heute.

 

Jede Zeit hat ihre Menschen - und es waren solche des frühen 19. Jahrhunderts, die voller Stolz auf die Initialen und die Jahreszahl im Deckenbalken ihres neuen Hauses blickten und hofften, dass man diese noch lange würde lesen können.

Ein kleines Stück Unsterblichkeit.

Es scheint geglückt.