„Das ist doch der österreichische Robin Hood.“
Diese Aussage habe ich erst vor wenigen Tagen wieder gehört. Bezogen war sie auf Johann Georg Grasel, den ich nur erwähnt hatte, weil er in losem Zusammenhang mit dem eigentlichen Gesprächsstoff stand.
Wahrscheinlich ist es dem Umstand geschuldet, dass ich mich mit jenem Verbrecher des frühen neunzehnten Jahrhunderts schon seit Jahrzehnten recht intensiv beschäftige, doch ich wundere mich immer wieder über diese und ähnliche Aussagen. Die Mythenbildung, die bereits vor Grasels Tod eingesetzt hatte, wirkte noch lange hartnäckig nach.
Offensichtlich bis heute.
Das mag mehrere Ursachen haben: das langjährige Verschwinden seiner Prozessakten, die Popularität, die ihm die Medien schon zu seiner Zeit beschert haben oder sein angeblich sehr ansprechendes Äußeres. Bis in die Gegenwart umgibt ihn der Nimbus des „edlen Räubers“, des „Rächers des kleinen Mannes“, des in großem Stil agierenden „Räuberhauptmannes“.
Noch heute stellen sich die meisten Leute bei der Erwähnung seines Namens einen martialisch auftretenden, bärtigen Hünen mit Schlapphut, Pistolen und Säbel vor, der mit seinen ebenso malerischen Gesellen im tiefen Wald (vorzugsweise in abgelegenen Höhlen) haust, die Reichen ohne Blutvergießen in pfiffigen Handstreichen überfällt, sie um ihre Schätze erleichtert und die Ärmsten der Armen mit der Beute selbstlos unterstützt.
Genau so tritt er in diversen Sagen auf und genau so wird er in Buchillustrationen dargestellt.
Doch was wissen wir wirklich über die Persönlichkeit des Johann Georg Grasel?
Seine Biografie habe ich bereits in einem Kapitel meines Buches „Nordwandern“ verhältnismäßig ausführlich dargelegt – und diese bildet natürlich die Grundlage seines Wesens. Aufgewachsen in einer Welt der Randgruppenkriminalität, bar jeder (eigentlich schon damals verpflichtenden) Schulbildung, wurde aus ihm das, was ihn letzten Endes an den Galgen brachte: ein gesuchter Verbrecher.
Genau diese Argumente führte er in seiner Verteidigung auch selbst vor Gericht an. Er gab seinen Eltern die Schuld an seinem Unglück, argumentierte – vor allem für einen unbelesenen Menschen wie ihn – erstaunlich modern und psychologisch geschickt. Er stellte sich als Opfer des Milieus dar, als vom Tag seiner Geburt an Chancenloser. Sein Vater habe ihn von frühester Jugend an mit körperlicher Gewalt – die Grasel sogar mit der Präsentation von Narben vor dem Gericht beweisen wollte – zum Stehlen abgerichtet und ihn so in ein Leben gedrängt, das zwangsläufig in eine eigene kriminelle Karriere münden musste.
Manche Autoren greifen diese Argumentation auch tatsächlich auf und stellen Johann Georg Grasel als Opfer der Umstände dar, als ein Produkt der katastrophalen Lebensbedingungen mancher Gesellschaftsgruppen in der Habsburgermonarchie zur Zeit der Napoleonischen Kriege. Und doch: Die Taten dieses Mannes zeugen von einer Brutalität, die weit über das hinausging, was man mit Verzweiflung entschuldigen – oder zumindest erklären – könnte.
Die meisten Überfälle folgten einem Muster, das heute noch hin und wieder vorkommt und in solchen Fällen für Schlagzeilen sorgt, die bei den meisten Lesern Entsetzen und verständnisloses Kopfschütteln hervorrufen. Für diese (neudeutsch „Home Invasions“ genannte) Form des Raubs ist kennzeichnend, dass die Täter in das Wohnhaus der anwesenden Opfer einbrechen, diese fesseln und – meist durch Anwendung physischer und psychischer Gewalt – dazu bringen, die Verstecke eventueller Wertgegenstände zu verraten.
Hierfür gibt es einige aktuelle Beispiele, die zum Teil beinahe wie Kopien der graselschen Überfälle wirken. Hier, hier und hier finden die interessierte Leserin und der interessierte Leser beispielhafte Links zu modernen Fällen im Stil des zum „Waldviertler Robin Hood“ verklärten Mannes.
Und doch sind letzten Endes nur wenige der modernen Fälle von so hemmungsloser Brutalität gekennzeichnet wie die vor über 200 Jahren im Waldviertel durchgeführten Verbrechen. Grasel und seine Mittäter wandten bei weitem mehr Gewalt an, als vermutlich notwendig war. Sie droschen mit Fäusten und Gegenständen auf ihre wehrlosen, da gefesselten Opfer ein, würgten diese und verletzten sie teilweise so schwer, dass sie lebenslang behindert blieben oder sogar starben. Einer dieser Todesfälle durch Gewaltanwendung bei einem Raubüberfall in Zwettl führte letzten Endes auch zu Grasels Verurteilung zum Strang: Eine alte Frau war nach einer solchen biedermeierlichen „Home Invasion“ an drei schweren Kopfwunden gestorben, die laut Gerichtsmediziner – ja, so etwas gab es damals schon! – von wuchtigen Schlägen mit einem harten Gegenstand herrührten. Der Beschuldigte beteuerte zwar wiederholt, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe, da er mit ihr die Kellertreppe hinabgestürzt sei, doch auch diese Argumentation konnte seine Hinrichtung nicht mehr abwenden.
Vor seiner Exekution wurde Johann Georg Grasel, wie es damals üblich war, auf der Schandbühne am Hohen Markt in Wien (ziemlich genau dort, wo heute ein stark frequentierter Würstelstand steht) der interessierten Bevölkerung präsentiert: kein Räuber Hotzenplotz-Verschnitt, sondern ein schlanker, etwa ein Meter siebzig großer, modisch gekleideter junger Mann, bartlos und mit aktueller Frisur, der angeblich besonders die weibliche Wiener Bevölkerung anlockte. Auch seine Komplizen Jakob Fähding und Ignaz Stangel wirkten, wenn man zeitgenössischen Illustrationen trauen darf, eher wie etwas heruntergekommene Studenten, weniger wie brutale, im ganzen Reich gesuchte Verbrecher. Sieht man sich den Altersschnitt der „Grasel-Gang“ (die in Wirklichkeit keine war, denn sie hatte kaum fixe Mitglieder, die Besetzung wechselte je nach Anlass) an, dann wäre sie nach heutigen Maßstäben eine Jugendbande: Die meisten Täter waren Anfang zwanzig, manche noch jünger, nur ganz wenige älter.
Auch handelte kaum einer von ihnen aus erdrückender materieller Not heraus, viele hatten einen durchaus einträglichen Beruf. Alkohol(sucht) spielte hier mit Sicherheit eine größere Rolle als Hunger, die Lust an Machtausübung eine größere als die Angst vor der Zukunft.
Und damit sind wohl weitere Parallelen zu heutigen Verbreche(r)n deutlich geworden. Wie schon in der Überschrift bemerkt und hier noch einmal plumperweise wiederholt:
Grasel lebt.