Bilder im Kopf

"Der Winter 1814 und 1815 war gerade die rechte Jahreszeit zur Errichtung einer Räuberbande: das platte Land von Militär entblößt, von Marodeurs, Ausreißern und arbeitsscheuen Abgedankten wimmelnd. (...) In kurzer Zeit befahl Grasel über ein Korps nahe an dreihundert Mann, darunter ein Viertel beritten, das Ganze militärisch organisiert, in mehrere Haufen nicht ohne strategische Klugheit verteilt; streng diszipliniert, zu blindem Gehorsam verpflichtet. Mord war streng verboten; die Sicherheit der Landstraßen, der Reisenden sollte nicht angetastet, den Armen beigestanden, dagegen Schlösser und Ämter geplündert werden, hauptsächlich um bares Geld."

 

Wer meinen Blogbeitrag vor etwa einem Jahr über den "Räuberhauptmann" Grasel gelesen hat, der kann über obige Schilderung des Friedrich Anton von Schönholz aus dem Jahr 1844 natürlich nur milde lächeln. Von einem Befehlshaber im Sinne militärischer Begrifflichkeiten, von einem Mega-Robin-Hood österreichischer Prägung, war Johann Georg Grasel in Wirklichkeit Lichtjahre entfernt. Wer den genannten Artikel (noch) nicht gelesen hat, dem sei nur gesagt: Jener Mann war ein Gewohnheitsverbrecher, der meist mit ein paar wenigen Gleichgesinnten brutale Einbrüche bei Wehrlosen durchführte. Übrigens zumeist unter Alkoholeinfluss und ausschließlich zur eigenen Bereicherung. Schlösser und Ämter zu plündern, wäre viel zu risikoreich gewesen, alte Frauen zu überfallen und in Weinkeller einzubrechen, waren eher typische Delikte im Grasel-Stil.

Trotzdem hält sich der Mythos um den "edlen Räuber" bis heute - und er dürfte sehr schnell entstanden sein: Immerhin schrieb Schönholz den oben zitierten Text ja gerade einmal 25 Jahre nach dem frühen Ableben des Protagonisten. Die ersten Legenden müssen sich also innerhalb kürzester Zeit gebildet haben. Vielleicht sogar bereits zu Lebzeiten Grasels.

Warum dies passiert sein könnte, ist in dem oben verlinkten Artikel auch bereits nachzulesen, deshalb werde ich es hier nicht ausführlich wiederholen. Auf alle Fälle dürfte es sich um ein Konglomerat verschiedener Ursachen handeln. Ein Bereich, der für Forschende aus den zwei Bereichen Geschichte und Psychologie gleichermaßen interessant sein dürfte.

Dass Grasel allerdings auch eine andere Seite hatte, dass er neben seinem unsteten Kriminellendasein auch zeitweise versuchte, Verantwortung für Freunde, Verwandte oder sogar sein Kind zu übernehmen, weiß man heute auch - und ich habe darüber auch bereits einmal geschrieben. Vieles davon geht vor allem aus den Verhörprotokollen hervor, die im Zuge seiner Gerichtsverhandlung geschrieben wurden. Sie sind eine ganz zentrale Quelle der Grasel-Forschung und offenbaren Einblicke in die Gedankenwelt dieses Mannes, die ihn zu einer durchaus interessanten Figur machen.

 

Allein sein scheinbar phänomenales Gedächtnis, was Einzelheiten eigentlich alltäglicher Vorkommnisse betrifft, erstaunt mich persönlich immer wieder aufs Neue. Noch Jahre später schien er sich an unzählige Details zu erinnern: Er konnte Beutestücke genau beschreiben, zählte minutiös die jeweiligen Komplizen jeder Unternehmung auf, ja, er erinnerte sich sogar großteils an die genauen baulichen Besonderheiten der aufgebrochenen Gebäude. All das ist umso erstaunlicher, als Grasel Analphabet war, er sich also keine Aufzeichnungen gemacht haben konnte.

 

Ganz egal, welche Seite der Verhörprotokolle man aufschlägt, auf jeder hallt Grasels Stimme durch die Zeit und zählt minutiös Beutestücke und außergewöhnliche Merkmale von Menschen, Landschaften oder Gebäuden auf. Nebenstehend ein willkürlich ausgewähltes Beispiel (Bild zum Vergrößern anklicken!):

So sind also nicht nur die Bilder von Grasel in den Köpfen der Menschen erstaunlich, sondern auch die Bilder im Kopf des Räubers selbst. Doch woran liegt es, dass ein junger Mann Mitte zwanzig sich noch nach Jahren an die genauen Umstände jeder seiner "beruflichen" Unternehmungen erinnern kann, wenn seine Altersgenossen heutzutage oft nicht einmal wissen, was sie am Vortag im Fernsehen gesehen haben?

So böse und überspitzt diese Frage klingen mag, sie enthält meiner Meinung nach auch bereits die Antwort:

Wir alle (und nicht nur die Twentysomethings) sind heute einer Informationsflut ausgesetzt, die vor 200 Jahren, also zu Lebzeiten Grasels, unvorstellbar gewesen wäre. Vom Öffnen der Augen bis zum Schließen werden wir mit Nachrichten aller Art beglückt. Wir lesen verschiedenste Texte, sehen unzählige Fotos und Videos, hören alle möglichen Arten von Musik - und das sowohl in der Arbeit als auch in der Freizeit. Vor zwei Jahrhunderten besaßen die meisten Waldviertlerinnen und Waldviertler kaum Bücher, sofern sie überhaupt lesen konnten. Sie hörten Musik maximal sonntags bei der Messe oder ab und zu bei Dorffesten. Gemalte Bilder waren Luxus, das erste Foto wurde erst sieben Jahre nach Grasels Tod aufgenommen und galt eher als wissenschaftliches Experiment denn als wirklich brauchbarer Informationsträger.

Obwohl die Erinnerungsfähigkeit des Verhörten bewundernswert ist, ihre Ursache liegt meiner Meinung nach zu einem großen Teil darin begründet, dass sein - durchaus wacher - Geist so gut wie nicht mit Informationsmüll verstopft war. Und auch wenn das auf den ersten Blick widersinnig erscheinen mag: Grasels mangelnde Bildung war hierbei wohl auch hilfreich. Als Analphabet war er nämlich mit Sicherheit zusätzlich gezwungen gewesen, sich von klein auf noch mehr auf seine Merkfähigkeit zu verlassen, als wenn er sich hätte Notizen machen können.

Darüber hinaus war natürlich eine der wichtigsten Fähigkeiten, die man als Berufsverbrecher braucht(e), eine gute Beobachtungsgabe: Tatorte mussten genau inspiziert werden, Beutestücke potenziellen Hehlern exakt beschrieben werden können und vieles mehr.

 

Trotzdem, die detailreichen Aussagen des Johann Georg Grasel erstaunen mich jedes Mal aufs Neue. Natürlich können bei ihrer Entstehung vorausgehende Suggestivfragen eine Rolle gespielt haben, doch es sind auch die Fragen der verhörenden Beamten protokolliert und diese weisen nicht auf eine Beeinflussung Grasels hin. Ganz im Gegenteil: Manche Angaben musste der Angeklagte zu anderen Zeitpunkten wiederholen - offenbar mit dem Hintergedanken, die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen zu überprüfen. Generell ist die Entstehung dieser Verhörprotokolle ein interessantes Thema, das allerdings den Rahmen des vorliegenden Blogbeitrages bei weitem sprengen würde.

 

Aber wer weiß, was mir in einigen Monaten an langen Winterabenden noch so einfällt? ;-)