Die Geschichte des Menschen ist naturgemäß auch immer eine Geschichte seiner Krankheiten. Keine Epoche war frei von (teilweise typischen) Plagen – auch wenn das wahre Wesen dieser Leiden oftmals jahrtausendelang rätselhaft blieb. Erst die letzten zwei- bis dreihundert Jahre brachten hier Aufklärung, eine geradezu lächerliche Zeitspanne im Vergleich zum Alter unserer Spezies.
Schlagen wir uns heutzutage in unseren Breiten hauptsächlich mit Leiden herum, die unserer naturfernen, bewegungsarmen und nahrungstechnisch überversorgten Lebensweise geschuldet sind, so war in früheren Zeiten eher das Gegenteil der Fall. Körperliche Überbeanspruchung in Kombination mit mangelhafter und/oder einseitiger Ernährung ließ die Menschen vorzeitig altern und sorgte – wie hier bereits vor einiger Zeit von mir dargelegt – für einen heutzutage unvorstellbaren Anteil an behinderten und chronisch kranken Menschen. Zusätzlich dazu waren die mangelnden Hygienebedingungen ein großes Problem: Infektionen und ansteckende Krankheiten erschienen als Schreckgespenster, gegen die kaum etwas ausgerichtet werden konnte. All das führte zu einer Lebenserwartung, die noch vor zweihundert Jahren nicht einmal die Hälfte der heutigen betrug. Dass Europa im 19. Jahrhundert auch immer wieder Kriegsschauplatz war, drückte diesen Wert noch einmal beträchtlich – und so konnte ein damals geborener Mann mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von gerade einmal 35 Jahren rechnen. Frauen brachten es immerhin auf etwa 38 Jahre.
Einen wichtigen Beitrag zu besseren hygienischen Bedingungen leistete gerade die (in meinem Büchlein „Nordwandern“ ausführlicher erwähnte) Zunft der Abdecker, auch Schinder oder Wasenmeister genannt. Diese sorgten primär für die Entsorgung von Tierkadavern, wofür sie sich noch verwertbare Teile behalten und diese weiterverarbeiten oder –verkaufen durften. Alles Unbrauchbare verscharrten sie üblicherweise auf Grundstücken um ihr Haus, das naturgemäß in Alleinlage außerhalb der Ortschaften gelegen war. Genau diese Lage jedoch ist es, die manche der ehemaligen Schinderhäuser für Erholung suchende Städter so attraktiv macht. Bei der Renovierung der (meist verhältnismäßig günstig zu erwerbenden) Immobilien lauert jedoch eine Gefahr, die man nicht außer Acht lassen sollte: nämlich das, was dort seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Jahrhunderten im Boden ruht: die Sporen eines Bakteriums, das für die Infektionskrankheit Milzbrand, auch Anthrax genannt, verantwortlich ist. Diese Krankheit befällt meist Paarhufer und andere pflanzenfressende Tiere, aber auch Menschen.
Sie hat drei Ausprägungen, die als Haut-, Lungen- beziehungsweise Darmmilzbrand bezeichnet werden und unbehandelt innerhalb weniger Tage tödlich enden. Sie manifestieren sich etwa in schwarzen, eitergefüllten Bläschen, die sich zu regelrechten Beulen verbinden können, in Fieber, Husten, Atemnot, blutigem Erbrechen und ebensolchem Durchfall, Herz- sowie Nierenversagen. Keine schöne Sache, ganz egal, welche Form man sich holt.
Übrigens spricht einiges dafür, dass manche vermeintliche Pestepidemien in Wirklichkeit Milzbrandepidemien waren, die Symptome waren für die Menschen früherer Jahrhunderte sicher nicht einfach auseinanderzuhalten – und beiden Krankheiten liegen letzten Endes mangelhafte Hygienebedingungen zugrunde.
Wenn also im Zuge von Baumaßnahmen der Boden um ehemalige Abdeckereien geöffnet wird, ist es möglich, dass die Sporen des Milzbranderregers wieder nach oben befördert und somit gefährlich werden. Doch selbst aus nach wie vor tief vergrabenen Kadavern können durch die Aktivität von Regenwürmern oder durch steigendes Grundwasser immer wieder Sporen an die Oberfläche gelangen.
Genau daran musste ich bei einem Spaziergang denken, den ich unlängst um das Städtchen Dobersberg unternahm. Als ich nämlich unterhalb des Schlosses entlangspazierte, kamen mir einige Sätze in den Sinn, die Johann Georg Grasel, der berüchtigte Waldviertler Räuber des frühen neunzehnten Jahrhunderts bei seinem Prozess über die Dobersberger Abdeckerei gesagt hatte:
Das Haus dieses Wasenmeisters liegt gleich unterhalb des Dobersberger Schlosses zwischen zwei Gräben, wo auch vorne ein kleiner Bach vorbeifließt. Dieses Haus hat keinen geschlossenen Hof, wohl aber einen Wagenschuppen und eine Scheune. In selbem befinden sich zwei Zimmer, nämlich rechts, wenn man ins Haus hineingeht, ist ein kleines Zimmer, durch welches man in den Stall gehen kann, und links ist das eigentliche Wohnzimmer des Wasenmeisters, welches drei Fenster mit eisernen Gittern hat. Im Zimmer selbst steht aber rechts ein Himmelbett, links gleich bei der Tür ein anderes, einfaches Bett, ein Tisch aus Birnbaumholz mit abgeschrägten Ecken, Lehnstühle und eine Standuhr.
Weniger die Beschreibung des (überraschend luxuriösen) Inneren war allerdings für mich interessant, sondern die Schilderung der Lage der Abdeckerei: Bis heute nämlich erstreckt sich vor dem Abhang, auf dem das Schloss steht, eine langgestreckte Wiese, um die sich mehrere Häuser (allerdings neueren Datums) befinden. Ebenso führt eine Straße vorbei – und welche Leitungen dort unterirdisch verlegt sind, kann man im Vorbeischlendern natürlich nur schwer feststellen.
Solche und ähnliche Gegebenheiten im Bereich ehemaliger Schinderbehausungen findet man mit Sicherheit häufig am Rande von Siedlungen im Waldviertel und anderswo vor. In größeren Städten wahrscheinlich mittlerweile sogar innerhalb heutiger Wohngebiete.
Gut, dass Milzbrand einerseits meldepflichtig, andererseits seit dem zwanzigsten Jahrhundert mit Antibiotika gut behandelbar – und bei uns deshalb sehr, sehr selten geworden ist.