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Belastungsprobe

Der Sonntagmorgen des 14. Juli gab sich bedeckt, ein wenig windig, unentschlossen, ob er die Himmelsschleusen über dem nördlichen Waldviertel öffnen wollte oder nicht. Die vorangegangene Woche war bereits recht kühl gewesen, zumindest für die Jahreszeit. Genau besehen war es aber ideales Wanderwetter - und eine Wanderung von Reingers Richtung Waidhofen an der Thaya wollte ich unternehmen: einerseits als Test, ob meine Straßenlaufschuhe auch für längere Märsche taugten, andererseits auch, um meinen Körper wieder an diese Art der Fortbewegung zu gewöhnen.

 

Ich war nicht ganz so früh aufgestanden, wie ich es vorgehabt hatte, deshalb beging ich auch gleich den ersten Fehler des Tages: Ich schluderte beim Frühstück. Eine Tasse Kaffee, ein kaltes Stück Pizza vom Vortag, zwei große Gläser Wasser, das war alles, was ich als Start in den Tag zu mir nahm. Klar, ich beschäftige mich ja üüüüüberhaupt nicht mit sportgerechter Ernährung. ;-)

Schnell steckte ich noch Führerschein, E-Card, Bankomatkarte, Verbandszeug, Regenjacke, Hausschlüssel, Handy und Powerbank in den Laufrucksack. Zusätzlich dazu packte ich zwei Kohlenhydratriegel und drei Schokoladenkekse ein, schnallte mir die Bauchtasche mit zwei kleinen Wasserflaschen um und verließ das Haus, Richtung Grenzübergang Kalkberg.

Nach nicht einmal zwei Kilometern wanderte ich bereits durch den Naturpark "Tschechisches Kanada", über dessen geschleifte Dörfer ich bereits in einem anderen Artikel und in meinem Büchlein "Nordwandern" berichtet habe.

Mehr als die Jahre zuvor war in diesem Bereich Holz geschlägert worden. Lichtungen waren entstanden, wo bisher dichter Wald gestanden war und so wirkten manche Streckenabschnitte regelrecht fremd auf mich - obwohl ich dieses Gebiet seit Jahren regelmäßig auf meinen Laufrunden oder mit dem Rad besucht hatte. Aufgrund der merkwürdig rosa besprühten Baumstämme vermute ich als Laie, dass der Borkenkäfer an diesen Schlägerungen nicht ganz unschuldig ist, kann mich aber natürlich auch täuschen. Ich bin ja kein Forstwirt.

 

Am Rande des Ortes Radschin betrat ich wieder österreichisches Hoheitsgebiet, wanderte aber nicht durch dieses malerische Dörfchen, sondern setzte meinen Weg durch den Wald um Engelbrechts fort.

Bis dahin war der Untergrund trocken gewesen, die Schuhe waren es dementsprechend auch. Da mich die vorab geplante Route allerdings auf diesem Streckenabschnitt über einen sehr, sehr naturbelassenen Waldpfad und damit durch hohes, nasses Gras führte, dauerte es nur wenige Augenblicke, bis das Mesh-Material der Laufschuhe mir Wasser vollgesogen und meine Socken und Füße ebenfalls nass waren. Durch die Bewegung wurde mir aber nicht kalt und angenehmerweise trocknete alles sehr schnell wieder, sobald ich wieder halbwegs befestigte Wege unter den Sohlen hatte.

Flotten Schrittes und voller Elan wanderte ich am "Platz des Skorpions", einem sagenumwobenen Waldstück mit eindrucksvollen Granitrestlingen, die esoterisch interessierte Touristen in Verzückung versetzen können, vorbei, wobei ein Stück meiner Route auch über einen Abschnitt der "Graselwanderwege" führte. Über den bis heute bekannten Waldviertler Räuber Johann Georg Grasel habe ich ebenfalls ausführlich in meinem oben erwähnten Buch sowie hier berichtet.

Anschließend führte der Weg angenehm sanft auf bequemen Güterwegen bergab über Weißenbach und Triglas bis nach Gastern. Zu dieser Zeit war es warm, sonnig, aber nicht zu heiß, die zurückgelegte Strecke war noch nicht nennenswert (etwa 16 Kilometer), kurz: Das (Wanderer-)Leben war schön.

Weiter ging es beschwingten Schrittes und ohne das geringste Problem über Feldwege und im Sonnenschein bis knapp vor Waidhofen an der Thaya. Mit Blick auf die Bezirkshauptstadt wanderte ich am Waldrand entlang, als ich mitten am helllichten Tag auf einer Wiese direkt vor mir zwei noch sehr kleine Rehkitze bemerkte, die in aller Seelenruhe dort ihr Mittagessen einnahmen. Langsam ging ich näher, um diesen Moment fotografisch festzuhalten, doch irgendwann bemerkten sie mich natürlich und verschwanden vorsichtshalber im Unterholz. Überhaupt wurde mir auf dieser Wanderung erst wieder bewusst, wie viel mehr man von der Tierwelt sieht, wenn man verhältnismäßig gemächlich zu Fuß unterwegs ist und nicht auf dem Rad (geschweige denn im Auto). Selbst laufend verpasst man so einiges von der heimischen Fauna, denke ich. An diesem Tag begegneten mir außer dem Rehnachwuchs nicht gerade wenige Hasen, Eichhörnchen, Bussarde, Falken und Krähen. Alle nahmen mich offenbar nicht als große Bedrohung wahr, so gemächlich, wie ich unterwegs war.

Etwa 24 Kilometer war ich mittlerweile unterwegs und nach wie vor ging es sich in den Laufschuhen durchaus bequem. Kurz nach meiner Rehkitzsichtung begann es allerdings strömend zu regnen. So heftig der Guss war, so kurz dauerte er Gott sei Dank aber auch nur. Allerdings hatte er mich auf einer ungeschützten Wegpassage überrascht, wo ein Unterstellen nicht möglich war. Für solche Fälle hatte ich aber eine Jacke und eine Kappe mit - und schließlich war diese Tour ja ein Materialtest, insofern kam mir der Regen gerade recht. Alles erfüllte seinen Zweck und bald schon kam ich bei nur mehr zaghaftem Nieseln in der Ortschaft Thaya an, die sowohl gartendesignmäßig als auch historisch mit einigen interessanten Detail aufwarten kann.

Bald schon lachte wieder die Sonne vom Himmel und die Temperatur stieg merklich an.

Und noch etwas anderes musste ich etwa bei Kilometer dreißig feststellen: An meinen Füßen bildeten sich die ersten Blasen. Nicht gerade an Stellen, die mich wirklich beim Gehen behindert hätten, aber doch unangenehm genug, um nicht mehr so locker auszuschreiten, wie ich das bis dahin getan hatte. Ich setzte die Füße nun deutlich bewusster auf und vermied wenn möglich, auf Steine oder Äste zu treten.

Zusätzlich dazu wurde es nun immer sonniger. Außerdem hatte ich ab Niederedlitz einige Kilometer auf dem Straßenasphalt und mit einer Steigung von etwa 100 Höhenmetern vor mir. Die bisherige Hochstimmung drohte ein wenig zu kippen. Da half nur, das Gehirn auszuschalten und automatisch weiterzutrotten. Sobald ich den Aufstieg geschafft hatte, wurde ich jedoch von einigen wirklich lohnenden Ausblicken auf das Thayatal unter mir entschädigt. Das gab wieder Kraft. Oder zumindest Motivation.

Doch die nächsten (kleinen) Schwierigkeiten ließen nicht lange auf sich warten:

Aufgrund des Umstands, dass ich das Handy nicht nur zur Navigation, sondern unterwegs auch zum Telefonieren und vor allem Fotografieren genutzt hatte, war die Akkuladung mittlerweile auf knappe dreißig Prozent gefallen. Viel tiefer wollte ich sie nicht sinken lassen, da ich befürchtete, dass manche Funktionen dann nicht mehr zuverlässig funktionieren würden - erfahrungsgemäß war es die Tracking-App, die in solchen Fällen zu Aussetzern neigte. So schloss ich kurzerhand die (ebenfalls noch nicht ausgiebig getestete) Powerbank an. Ganz bewusst hatte ich mir ein Modell besorgt, das zusätzlich auch mit einer Solarzelle ausgestattet war und so im Sonnenlicht zusätzlich zur gespeicherten Ladung neu gewonnene Spannung für mein Handy produzieren konnte. Das funktionierte tadellos, wie ich erfreut feststellte, der Ladestand des Akkus stieg durchaus flott wieder an.

Was jedoch nicht anstieg, waren mein Nahrungs- und Flüssigkeitsvorrat.

Aufgrund der Hitze hatte ich mehr getrunken als geplant und war bereits in Merkengersch (bei Kilometer 32) wasserlos. Auch die Riegel und die Keks waren längst verputzt.

Nun gut, ich käme ja noch durch einige Ortschaften. Kühler wurde es auch schon wieder. Und ein bisschen Durst hält man ja aus. Hunger erst recht. So what?

 

Bald trat ich wieder aus dem Wald und befand mich am oberen Ende eines Schilifts. Zwar war dieser im Juli nicht sehr frequentiert - und auch gar nicht in Betrieb -, doch tief unter mir in der Ebene konnte ich das Dobersberger Schloss ausmachen. Es war nicht mehr weit in die Zivilisation. Dort gab es einen Bankomat und Lokale, in denen ich etwas trinken und meine Wasservorräte wieder auffüllen konnte. So machte ich mich also beschwingt an den Abstieg über die etwas schneelose Piste, vorbei an einem Wildschweingehege zur Talstation des Lifts. Die dortige Jausenstation ließ ich in Ermangelung von Bargeld (der nächste Fehler, wie ich mir eingestehen musste) unbesucht und folgte dem Herrensteig bis an die gemütlich dahinplätschernde Thaya, die ich auf einer Holzbrücke überquerte und einige Minuten später im Zentrum von Dobersberg stand.

Doch wo war mein Durst geblieben? Es war nun wieder verhältnismäßig kühl und der Aufwand, einen Umweg zum Geldautomaten und einem Lokal zu machen, erschien mir nicht allzu verlockend. Da ließ ich mir lieber unterwegs immer wieder am Wegesrand wachsende Brombeeren schmecken. Das half gegen Durst und Hunger, die aber beide nicht nennenswert zu spüren waren, wie ich ehrlich zugeben muss.

Ich wanderte über Felder und unter zusehends bedrohlicher aussehenden Regenwolken nach Lexnitz, befand mich also schon wieder auf dem Rückweg. Das war durchaus beruhigend - auch wenn die Fußsohlen mittlerweile heftig und mit Blasenbildung gegen ihr Eingeschlossensein in den Laufschuhen protestierten.

Irgendwo auf einem Feldweg im Nirgendwo war es dann soweit: Ich hatte die offizielle Marathondistanz von 42,195 Kilometern erreicht und wusste, dass das Ende nah war. Also nicht, dass ich bereits die Pforten des Himmelreichs aufschwingen gesehen hätte, so schlimm war der Zustand meiner Fußsohlen auch wieder nicht, aber es beschwingte durchaus zu wissen, dass der Großteil der Tagesstrecke bewältigt war. Es war nämlich nicht zu leugnen: Ich wurde langsam etwas müde. Durch mangelnde Konzentration nahm ich eine falsche Abzweigung und folgte einem ungeplanten Weg in die nächste Ortschaft, nach Kautzen. Doch egal, ich wäre so oder so dort angelangt. Kaum hatte ich das Ortszentrum erreicht, begann es in Strömen zu gießen. Die dunklen Wolken, die bisher kaum einmal ein paar Tropfen abgegeben hatten, entluden sich mit voller Wucht über mir, sodass ich schleunigst Deckung unter einem Vordach suchte, wo ich den Guss abwarten wollte. Dort stand auch eine Bank, auf die ich mich setzte - und zwar zum ersten Mal an diesem Tag. Bis dahin war ich ohne Pause marschiert, nur zum Fotografieren oder zur Erfüllung eines zutiefst menschlichen Bedürfnisses hatte ich kurz angehalten. Das Sitzen nach 46 Wegkilometern und weit über zehn Stunden auf den Beinen tat also durchaus gut. Gelinde gesagt. Ich nahm mir sogar die Zeit für ein Selfie im Wet-Look.

 

Nachdem der Regen wieder leichter geworden war, machte ich mich erneut auf, beschloss aber, die ursprünglich geplante Route etwas abzukürzen. Auch so würde ich auf deutlich über 50 zurückgelegte Kilometer kommen. Aufgrund der unsicheren Wetterbedingungen und dem Zustand meiner Fußsohlen sollte das fürs Erste genügen.

Grimmig - aber schon etwas humpelnd - nahm ich den Anstieg von Kautzen zum ehemaligen Galgen jener idyllischen Gemeinde in Angriff. Wirklich stark befahren war diese Straße erfahrungsgemäß ja nicht. Andererseits: Welche Waldviertler Landstraße ist das überhaupt?

Nach der seinerzeitigen Richtstätte (die den Delinquenten und auch den Schaulustigen jedes Alters einstmals übrigens sicher einen schönen Ausblick über die nähere Umgebung gewährt hat) nahm ich noch einmal alle Kraft zusammen und erklomm die letzte größere Steigung des Tages in das Dörfchen Radschin, das ich zu Beginn des Tages bereits tangiert hatte.

 

Knapp hinter der tschechischen Grenze erreichte ich die Fünfzig-Kilometer-Marke und stapfte - den heimatlichen Stallgeruch quasi schon in der Nase - durch das zerstörte Dörfchen Romau wieder in meinen Heimatort Reingers, wo erst ein köstlicher Radler und anschließend eine heiße Dusche auf mich warteten.

Beides hatte ich mir nach insgesamt fast 55 Wanderkilometern verdient. Dezidiert.

Und welche Lehren hatte ich aus den Erfahrungen dieser Tour gezogen?

1) Meine Laufschuhe (Asics GT 1000) sind zum langen Gehen suboptimal - zum Vergleich werde ich aber demnächst eine vergleichbare Strecke mit meinen Wanderschuhen (Lowa Renegade) zurücklegen.

2) Ordentliche Verpflegung ist bei langen Belastungen durchaus ratsam, obwohl der Treibstoffmangel für mich nicht so spürbar war wie auf nur halb so langen Läufen.

3) Regelmäßige Pausen könnten die Sache auch angenehmer machen, das richtige Maß zu finden, wäre wichtig.

4) Bis auf die Schuhe wird die restliche Ausrüstung (Jacke, Hose, Shirt, Laufrucksack, Bauchgurt) auf alle Fälle auch im Oktober zum Einsatz kommen: Nichts drückt, nichts scheuert, alles ist leicht und trocknet schnell.

Also, Vajk, dranbleiben, weiter tüfteln und den Megamarsch rocken! :-)