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Der notwendige A...tritt

Jede und jeder, die oder der den vorliegenden Artikel liest, wird sich höchstwahrscheinlich nicht angesprochen fühlen. Das kann ich jetzt schon behaupten. Doch vielleicht ist es interessant, das Verhalten der Mitmenschen nach Lektüre der folgenden Gedanken noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Oder vielleicht doch sogar das eigene.

 

Um mich dem Thema zu nähern, möchte ich kurz ein wenig Selbsterlebtes zum Besten geben:
Immer wieder treffe ich auf Personen (beiderlei Geschlechts), die durchaus sympathisch wirken. Manchmal sogar attraktiv. Auf alle Fälle aber nach dem ersten Eindruck sehr gewinnend. Und doch ist es so, dass jener erwähnte erste Eindruck - welcher an und für sich ja äußerst bestimmend für das Bild ist, das man sich von jemandem macht - sehr bald von etwas überlagert wird, das die ursprüngliche Sympathie enorm schmälern kann: dem wiederholten Jammern über all die Schwierigkeiten, die das Leben so bereithält. Der schreckliche Job, auf den man angewiesen ist, die Gegend, in der man wohnen muss, die Rückenschmerzen, die einem den Alltag erschweren, das alles und noch viel mehr hört man oft schon beim ersten Aufeinandertreffen. Spätestens aber beim zweiten. Eigentlich könnte ich mich ja geschmeichelt fühlen, dass mir die subjektiv größten Probleme dieser Menschen so offen anvertraut werden, aber ganz ehrlich: Sonderlich interessant finde ich eine solche Konversation nicht. Ganz im Gegenteil.

 

Es dürfte also eine Smalltalk-Konstante erster Güte zu sein, dass man über etwas jammert. Doch dieses Beklagen scheinbar unveränderlicher Umstände offenbart vor allem eine Haltung, die mir in den letzten Jahren nicht nur immer suspekter geworden ist, sondern die ich auch als Grundübel eines "potscherten Lebens" (Copyright Hans Orsolics) ansehe. Aus lauter Angst, etwas zu verändern, aktiv seine Lebensumstände anzupacken, platziert man seinen mehr oder minder breiten Hintern in eine Sitzbadewanne, die mit purem Selbstmitleid gefüllt ist, und weist auch noch lautstark auf diesen Umstand hin.

Nicht sehr sexy.

 

Die Ursache für jenes Phänomen liegt meines Erachtens darin, dass es eindeutig bequemer ist, unglücklich in etwas Bekanntem auszuharren, als sich durch die Veränderung von Umständen subjektiv in Gefahr zu begeben.

Diese Taktik war vor einigen tausend Jahren sinnvoll, keine Frage: Die Umwelt steckte voller Gefahren und so riskierte man besser nur das, was man unbedingt riskieren musste, um zu überleben. Es blieben noch genug Nervenkitzelauslöser wie Säbelzahntiger, unwegsames Gelände, Höhlenbären oder extreme Wetterkapriolen über. Diese Liste kann natürlich noch deutlich verlängert werden. Dass es also eine psychische Notwendigkeit war, dort, wo es ging, auf Nummer sicher zu gehen, liegt auf der Hand. Ebenso liegt auf der Hand, dass die Vorsichtigen auch mehr Chancen hatten, sich fortzupflanzen. Überspitztes (und sehr einseitiges) Fazit: Wir sind die Nachfahren jener Urmenschen, die intelligent feige sein konnten.

Selbstverständlich ist diese Aussage grob vereinfacht und lässt viele andere Faktoren, die wir vererbt bekommen haben, außen vor, aber ich denke, es wird deutlich, worauf ich hinaus will:

Unser vorsichtiges Verharren in bekanntem Unglück macht evolutionsbiologisch durchaus Sinn.

 

Nun ist es aber bekanntlich so, dass wir mittlerweile in einer Umgebung leben, die mit jener, für die wir konzipiert sind, wenig gemeinsam hat. Auf diesen Umstand bin ich schon in anderen Artikeln dieses Blogs eingegangen, zum Beispiel in diesem. Allerdings habe ich bisher nur die physiologische Seite der Medaille beleuchtet, doch die psychologische ist meines Erachtens mindestens ebenso wichtig - was ich hiermit nachhole.

 

Um aus der Sackgasse jenes "wunschlosen Unglücks" (Copyright diesmal Peter Handke) zu entkommen, ist es meines Erachtens wichtig, sich des Drei-Zonen-Modells bewusst zu werden. Dieses beschreibt, in welchen Bereichen sich eine Person bewegt, die sich verändert - oder das zumindest will. Im Folgenden werde ich kurz auf diese Bereiche eingehen:

 

1. Die Komfortzone

 

Sie stellt jenen Bereich dar, in dem sich ein Mensch wohlfühlt und dementsprechend entspannt sein kann. Er kann abschätzen, was von ihm gefordert wird und muss mit keinen Überraschungen rechnen. Anfallende Aufgaben stellen ihn vor keine Herausforderung und die Kommunikation mit seiner Umgebung fällt ihm leicht. Routinen und Gewohnheiten verleihen ihm in diesem Bereich die nötige Selbstsicherheit.

 

2. Die Lernzone

 

Dieser Bereich wird oft auch „Wachstums- oder Risikozone“ genannt. Hier betritt die Person Neuland. Die Regeln der Komfortzone gelten hier zum Teil nicht mehr, was als Herausforderung empfunden wird. Daraus resultiert eine erhöhte Aufmerksamkeit. Man ist sich möglicher Risiken bewusst und bewegt sich deshalb (physisch oder psychisch) vorsichtiger. Funktioniert das, dann hat der Mensch sein Wissen oder seine Fähigkeiten - und damit auch seine Komfortzone - erweitert.

 

3. Die Panikzone

 

Der letzte Bereich ist jener, in dem der Mensch unter enormen Stress gerät.  Das passiert beispielsweise, wenn die Person eine Situation überhaupt nicht einschätzen kann oder sich vollkommen unfähig fühlt, diese unbeschadet zu meistern. Die Folge ist ein Gefühl von vollkommener Überforderung, dessen äußere Merkmale beispielsweise Schweißausbrüche oder Zittern sind. Allerdings gilt auch hier dasselbe wie in der Lernzone: Wird die Situation gemeistert, hat der betreffende Mensch seine persönlichen Zonengrenzen neu definiert.

 

Beim Erweitern der mentalen Fähigkeiten ist es wichtig, seine Grenzen nach einem ähnlichen System wie beim sportlichen Training zu verschieben. Auch hierbei führen kleine, aber regelmäßige Schritte am ehesten zu nachhaltigem Erfolg.

Aus diesem Grund habe ich mir bereits vor längerer Zeit angewöhnt, mindestens einmal pro Woche etwas zu tun, bei dem ich meine Komfortzone bewusst verlasse. Dabei ist es eigentlich egal, ob dies eine physische Herausforderung ist, der ich mich stelle, oder eine psychische. Es geht mir ja primär darum, eine Routine zu entwickeln, die mich befähigt, ungewohnte Situationen nicht als Bedrohung wahrzunehmen, sondern als das, was sie sind: Lernchancen. Dass man dabei auch noch ganz automatisch seine Fähigkeiten in diversen Bereichen erweitert, ist das willkommene sprichwörtliche Sahnehäubchen auf der Torte.

Anbei gleich einmal ein Beispiel von vielen:
Ich bin jemand, der sehr gerne lange schläft. So ein gemütliches In-den-Tag-Hineinschlunzen finde ich am Wochenende wirklich fein. Vor allem deswegen, weil ich unter der Woche ohnehin jeden Tag um fünf Uhr in der Früh aufstehe.

Statt also den gestrigen Samstagmorgen sanft anzugehen, beschloss ich am Freitagabend recht spontan, ganz bewusst das genaue Gegenteil zu tun:

Ich nahm mir vor, um zwei Uhr morgens aufzustehen, alles für ein Gipfelfrühstück vorzubereiten, meine Klettersteigausrüstung zu schnappen und um drei Uhr zum Hochkar aufzubrechen, wo ich um etwa sechs Uhr den Heli-Kraft-Klettersteig testen wollte.
Gesagt, getan. Als der Handywecker läutete, verpasste ich mir den in der Überschrift bereits zitierten notwendigen Arschtritt und legte mit der Vorbereitung auf dieses neuerliche Mikroabenteuer los. Die regelmäßigen Leserinnen und Leser des vorliegenden Blogs wissen, was ich mit diesem Ausdruck meine.

Ich saß um kurz vor drei Uhr im Auto und rollte vom Norden in den Süden Niederösterreichs, um das nächtliche Waldviertel zu erleben (okay, das war nichts wirklich Neues), den Sonnenaufgang über der Donau bei Ybbs zu bewundern und nicht allzu lange darauf tatsächlich morgendliche Bergluft am Hochkar zu schnuppern.
Kaum hatte ich meine Bergschuhe an den Füßen und den Rucksack mit Klettersteigset, Helm und Frühstück am Rücken, wanderte ich suchend über die etwas verwaist daliegenden Skipisten der Gegend, um den Einstieg in den Steig zu finden.

Nachdem ich mit Hilfe meines Handys bald auf dem rechten Weg war, stapfte ich - erst über harschige Schneefelder, dann über ein steiles Geröllfeld - Richtung Wand. Dort erwartete mich bereits die (durch den lebhaften Morgenwind) recht schwankende  Stahlseilleiter, die zur ersten senkrechten Kletterstelle des Steigs führte. Auf halber Höhe realisierte ich: Eigentlich war das die höchste Leiter, die ich bisher benutzt hatte. Wieder etwas Neues, wenn auch nicht wirklich ein Schritt aus der Komfortzone, da mein Problem auf Klettersteigen weniger die Höhe als die Technik ist. Der nächtliche Aufbruch hatte mehr Überwindung gekostet.

Spannender wurde es da bereits am oberen Ende der Leiter. Ich musste mich weit nach links über den Abgrund lehnen, um die Sicherungskarabiner am Stahlseil einzuhaken und mich anschließend von der relativen Sicherheit der nach wie vor schwankenden Leiter in die senkrechte Wand zu begeben. Nun war ich wirklich munter.

Weiter ging es am Fels geradewegs nach oben, bis der Steig eine Linkskurve beschrieb und tendenziell leicht bergauf über weite Bereiche auf Stahlstiften verlief, die aus dem Felsen ragten und auf denen man sich über dem Abgrund an der Wand entlangbewegte.

Hin und wieder folgten Stellen, an denen ich ein wenig überlegen musste, wie sie am besten zu bewältigen wären, allerdings gab es keine, wo wirklich viel Gehirnleistung verlangt war. Der Steig war nicht sehr schwierig. Der einzige Umstand, der mich beim Klettern selbst aus der Komfortzone führte, war der, dass ich erstmals solo auf einem Klettersteig unterwegs war. Eine Premiere - ohne Bergbuddy war ich körperlich und mental natürlich ganz auf mich allein gestellt. Andererseits konnte ich mich so besser auf mich selbst und auf meine Technik konzentrieren.

Kein Nachteil ohne Vorteil, wie es schien.

Herzlich willkommen in der Lernzone. Zum zweiten Mal an diesem Tag.

Etwa eindreiviertel Stunden, drei Seilbrücken und viele wunderschöne Ausblicke ins Alpenvorland später gelangte ich zum Ausstieg des Steigs neben dem Gipfelkreuz.

Dort packte ich das mitgebrachte Frühstück aus und genoss - mittlerweile gemütlich sitzend und nicht an einem Stahlseil in der Wand hängend - das Panorama im morgendlichen Licht des jungen Samstags.

Und die Moral von der Geschicht'?
1. Ein Gipfelbier schmeckt auch vor neun Uhr morgens, wenn man zuvor ordentlich geschwitzt hat und Elektrolyte braucht.

(Übrigens war dieses Getränk jahrhundertelang das typische Frühstücksgetränk, Kaffee ist erst eine ziemlich junge Modeerscheinung. Nur der Vollständigkeit halber...)

2. Einen Tag damit zu beginnen, sich noch vor dem Frühstück in zwei Bereichen aus der Komfortzone zu begeben, lässt einen ziemlich munter und zufrieden mit sich selbst sein. Was ja kein schlechter Wochenendstart ist.

 

Also, liebe Leserin oder lieber Leser:
In welchem Bereich du speziell deine Komfortzone erweitern möchtest, sei dir überlassen. Und vielleicht tust du es ja ohnehin bereits bewusst oder intuitiv. Dass du es aber regelmäßig machen solltest, ist meines Erachtens nach immens wichtig.

Zumindest, wenn du nicht zu den Jammerern und zu Opfern der Umstände zählen möchtest, die ja "nichts ändern können".

Doch, du kannst.

 

Wie hat Wolfgang Ambros so schön getextet?

Da ane lebt hundert Joahr, is glücklich und zufriedn, da andere stirbt mit zwanzig, weu nix weitergeht...