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Augen zu und durch

Das Leben ist kein Ponyhof. Das wissen wir alle. Unsere Mitmenschen verhalten sich nicht so, wie wir uns das wünschen, finanzielle Belastungen tauchen genau in dem Moment auf, wenn wir gerade ohnehin kein Geld auf der Seite haben, Wahlen gehen anders aus, als uns das genehm ist, die Kinder werden justament dann krank, wenn man für die Urlaubsreise packt, und so weiter und so fort.

Ein Dauerbrenner in dieser Hitparade der Enttäuschungsgründe ist mit Sicherheit das leidige Thema Wetter. Die gelernte Raunzerin und der gelernte Raunzer (beides Archetypen des österreichischen Figurenpanoptikums) steigen mit Vorliebe über dieses Thema in den geliebten Smalltalk ein - und das ist auch nur zu logisch: Wetter gibt es ja immer, da muss man nicht lange über eine Gesprächseröffnung nachdenken.

Weiters wird der aktuelle Zustand des lokalen Atmosphärenanteils auch gern als Grund genommen, warum man "heute sicher nicht rausgeht".

 

Doch (und damit nehme ich die Conclusio des vorliegenden Textes bereits vorweg) es lohnt sich, sich selbst in den Allerwertesten zu treten. Also, bildlich gesprochen natürlich. Anders wäre der Nutzen eher gering, außer man möchte im Zirkus Karriere machen.

Ignoriert man manche widrigen Umstände, so macht man nicht selten im Leben Erfahrungen, die einen in Kombination mit anderen durchaus in der Persönlichkeitsentwicklung weiterbringen können. Erfahrungen, die für uns in der Kindheit vielleicht noch ganz alltäglich gewesen sein mögen, die aber mit der Anzahl an Lebensjahren mehr und mehr verlorengehen.

Ein bisschen Pfeif-drauf-Mindset zu entwickeln, ein bisschen Coolness, ein bisschen Härte zu sich selbst, hat noch niemandem geschadet.

Ein Beispiel gefällig?

Der Februar war jung, der vorausgegangene Jänner ein Bilderbuchwintermonat gewesen, doch seit kurzem hatte Tauwetter eingesetzt. Das bedingte, dass die Bodenbeschaffenheit im nördlichen Waldviertel - und wohl nicht nur da - eine eher suboptimale war: Der verbliebene Schnee präsentierte sich schwer und sulzig, der Erdboden selbst matschig und tief, außerdem versteckten sich dazwischen mit Vorliebe großflächige Eisplatten, die ein Vorankommen abseits geräumter Straßen kräfteraubend machten. Für ortsansässige Bewegungsmasochisten wie meine durch quasi nichts zu erschütternde Wanderkomplizin (der auch die beigefügte GPS-Aufzeichnung zu verdanken ist) und mich also die idealen Voraussetzungen für eine mehr oder minder kleine Wanderrunde durch die die heimatlichen Gefilde.

Nachdem wir die Tour bereits zweimal aus verschiedenen Gründen verschieben hatten müssen, waren wir verhältnismäßig wild entschlossen, sie an jenem Mittwoch in den Semesterferien endgültig anzugehen. Gesagt, getan, um acht Uhr morgens ging es von Litschau los. Eine genaue Schilderung der Route soll nun aber gar nicht Inhalt des vorliegenden Textes sein, diese kann man ohnehin recht gut auf der Karte nachvollziehen.

Worum es mir geht, ist etwas anderes:

Trotz prognostizierten Regens, trotz der bereits oben geschilderten Bodenverhältnisse stand kaum ernsthaft zur Diskussion, dass wir die Tour unter die Wanderschuhsohlen nehmen würden.

Zwar schlitterten wir über Eisplatten, versanken in wässrigem Schnee, balancierten auf halbwegs trockenen Bereichen der Wege, schlugen uns querfeldein durch weglose Waldstücke, sprangen in sumpfigen Wegabschnitten von tragfähigem Plätzchen zu tragfähigem Plätzchen (was nicht immer von Erfolg gekrönt war), schwitzten aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit und kamen insgesamt dadurch nicht so schnell voran wie sonst. Okay, knappe sechs Kilometer pro Stunde sind nicht soooo schlecht, aber wir waren bei so mancher vorangegangenen Wanderung schon schneller gewesen. Es war eindeutig eine Art der Fortbewegung, die mehr koordinative Fähigkeiten erforderte als ein Wandern auf trockenen, ebenen Wegen. Eine heutzutage fast schon vergessene Form des Vorankommens. So oder so ähnlich waren die Menschen früherer Jahrhunderte hier im Nordwald von A nach B gelangt: Sie hatten nur wenige oder schlechte Wege zur Verfügung gehabt, mussten kaum begehbares Sumpfgelände queren, sich durch verwachsene Waldabschnitte vorankämpfen oder steglose Bäche überqueren. All das taten wir an diesem Tag ebenso.

Um das Naturerlebnis perfekt zu machen, setzte nach drei Vierteln des Weges mal schwächerer, mal stärkerer Februarregen ein. Egal, Nässe von unten, Nässe von oben - es ging ja schon wieder Richtung Auto, sprich computerzeitlicher Bequemlichkeit. Obwohl ich einen Dacia fahre.

Nass, mit klammer Kleidung und nicht mehr ganz blütenrein sperrte ich nach meiner Heimkehr die Haustür auf. Der nasse Rucksack wurde vorerst nur im Vorzimmer liegen gelassen, ebenso wie die Wanderschuhe und die klitschnasse Kappe. Relativ zügig holte ich mir saubere Wäsche im homeschoolingbewährten Schlabberlook (Jogginghose und Hoodie) und sauste unter die Dusche. Sauber, trocken und nach einem halben Tag intensiver Bewegung an der frischen Luft spürte ich wieder einmal, was es hieß, lebendig zu sein. Ein Elektrolytgetränk in Erwachsenenausgabe und eine dunkle Nussschokolade später (siehe Bild) hatte das Leben noch zusätzlich an Qualität gewonnen.

Ich war froh, dieses Gefühl zu kennen - das Gefühl, sich wie ein Kind dreckig gemacht zu haben, nass geworden, stundenlang in Bewegung geblieben zu sein, den Wind im Gesicht und den Regen im Kragen gespürt zu haben.

 

Ich befinde mich in meinem sechsten Lebensjahrzehnt, fühle mich körperlich wie maximal in meinem vierten und verdanke das mit Sicherheit dem Umstand, keine Berührungsängste mit widrigen Wetterbedingungen oder körperlicher Anstrengung entstehen zu lassen. Wer einen Jungbrunnen sucht, findet diesen nicht in der Apotheke, nicht in esoterischen Praktiken, nicht  in Büchern und nicht in modischen Diäten. Wie schon in anderen Artikeln immer wieder erwähnt, gibt es nur eines, das einen weiterbringt: das Verlassen der Komfortzone.

Dann darf man sich auch - moderat - belohnen und vor allem das Leben, die Wärme eines Hauses, saubere, trockene Kleidung sowie den Luxus, sich einige Zeit nicht zu bewegen, in vollen Zügen genießen.

Das mag primitiv klingen, aber unsere Bedürfnisse sind in ihren Grundzügen nun einmal primitiv. Das Erleben natürlicher Widrigkeiten ist für unsere Gesundheit und Lebensfreude essentiell. Ein Entfernen von dieser Ursprünglichkeit macht uns krank und lässt uns schneller altern als notwendig.

Mein Appell an alle Leserinnen und Leser dieses Textes lautet also: Verlasst regelmäßig eure staubgesaugte, zentralgeheizte Umgebung und geht ins Freie, ganz egal, wie das Wetter gerade ist. Bewegt euch dort so lange, bis ihr den Eindruck habt, mehr getan zu haben, als ihr gewohnt seid. Stellt euch dem Gelände, verlasst asphaltierte Wege, springt, klettert, balanciert, bleibt möglichst lange in Bewegung. Wenn ihr schmutzig werdet, ignoriert es, wenn ihr nass werdet, akzeptiert es, wenn euch kalt wird, bewegt euch schneller.

Im Anschluss an diese kleinen Strapazen dürft und sollt ihr euch dem körperlichen Faulenzen hingeben, auch das ist nur natürlich. Regeneriert, genießt und spürt, wie gut das alles tut.

 

Ich garantiere jedem, der dies regelmäßig macht, dass er nicht nur eine immense Erhöhung der Lebensqualität erfahren wird, sondern auch, dass er im Alltag diversen Schwierigkeiten mit einer deutlich größeren Leichtigkeit begegnen wird als bisher. Unbequemlichkeiten zu ertragen, bildet.

Oftmals mehr als noch so viel angelesenes Bücherwissen über die Kunst des positiven Denkens.

Rausgehen, aktiv sein, wachsen.

Ohne zu raunzen, ohne zu überlegen. Einfach, weil es gemacht werden muss. So spürt man, dass man lebt - ein Gefühl, das vielen Menschen in dieser Qualität längst abhanden gekommen ist.

Viel Spaß dabei.