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Auf der Tanzfläche der Zeit

Gebäude sind wie Menschen. Sie zeigen der Welt ihr Äußeres und offenbaren ihr Inneres nur denen, die sich die Mühe machen, nach Aufforderung einzutreten. Sie freuen sich über Zuwendung und leiden ebenso wie wir unter Vernachlässigung. Sie erfüllen im Laufe ihres Lebens verschiedene Aufgaben und haben eine sehr persönliche Geschichte – eben genau wie wir auch. 

 

Ein Bauwerk, mit dem mich seit Jahren so etwas wie die Zuneigung eines Kindes zu seinem aus der Zeit gefallenen Urgroßvater verbindet, ist die “Roßmühle” in Korneuburg, jener Stadt, in deren Umfeld ich doch viele Jahre gelebt, in welcher ich unterrichtet und zu deren Geschichte ich auch immer gerne geforscht habe. Man sieht, der Schreiber der vorliegenden Zeilen war eigentlich schon immer so, wie man ihn auch heute kennt. Wo er hinkommt, will er wissen, wer vor ihm an jener Stelle gestanden ist, wie die Menschen früherer Zeiten sein (oder eigentlich ihr) Umfeld wahrgenommen und gestaltet haben. Jeder Spaziergang trägt die Chance auf eine Zeitreise in sich, jeder Winkel atmet für den Vajk Geschichte. Ob das nun positiv oder negativ zu werten ist, ist der geschätzten Leserin oder dem geschätzten Leser selbstverständlich ganz persönlich überlassen. 

Diese “Roßmühle” ist ein auf den ersten Blick unscheinbares, ja sogar desolat und eventuell abstoßend wirkendes plumpes Gebäude aus rohem Stein, das so gar nicht in die kleinstädtisch-gepflegte Idylle der direkten Umgebung passen will. Wenn man allerdings etwas näher hinsieht, fällt (zumindest kunstgeschichtlich nicht vollkommen unbeleckten Menschen) auf, dass dieser verfallene Kasten uralte Spitzbogenfenster sowie ein vermauertes gotisches Portal und Spuren eines mittelalterlichen Rundfensters aufweist. All das wirkt wie Narben am Körper eines Kriegsheimkehrers, manches ist nur mehr erahnbar, anderes vielleicht noch frisch und offen. Doch vieles ist auch erst später hinzugekommen und der ursprünglichen Idee der Erbauer abträglich. 

 

Umgeben von modernem Leben wirkt das Gemäuer wie ein gelähmter Greis, dem man eine Narrenkappe aufgesetzt und ihn im Rollstuhl auf die Tanzfläche einer Hochzeitsgesellschaft geschoben hat. Durch die Ereignisse vergangener Jahrhunderte seiner Würde beraubt, blinzelt der ehemalige Charakter jenes Gebäudes lediglich hilflos ins Licht der Gegenwart und scheint nicht zu verstehen, was mit ihm geschehen ist. Doch anders als die Litschauer Pfarrkirche, deren eigentliche Bestimmung als Gotteshaus ihr bis heute zugedacht ist, hat die “Roßmühle” ihre ursprüngliche Funktion verloren. Nicht umsonst setze ich den Namen dieses Gebäudes hartnäckig zwischen Anführungszeichen. Ja, sie war eine Mühle, doch zu dieser wurde sie degradiert. Ursprünglich handelte es sich bei der “Roßmühle” um die repräsentative und prachtvolle Synagoge der Stadt, errichtet etwa zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Sie war zu jener Zeit mit ihrem Wiener Pendant durchaus vergleichbar, doch die Obrigkeit hatte sie kaum ein Menschenleben nach ihrer Erbauung den ursprünglichen Besitzern, der jüdischen Glaubensgemeinde, entrissen und sie dem Landesfürsten zugesprochen, der sie demonstrativ als Schüttkasten nutzen ließ. Das wäre etwa so, als würde die Stadtregierung heute die römisch-katholische Kirche enteignen, um aus der Korneuburger Pfarrkirche Sankt Ägyd einen Lagerhaus-Getreidesilo zu machen. Andere Zeiten, andere Sitten. Antisemitismus hat eben auch im schönen Niederösterreich eine lange Tradition. Anschließend wurde das Gebäude fast 200 Jahre lang von der Stadt an diverse Handwerker vermietet, bis es an einen gewissen Johannes Rosmüller oder Rosenmüller kam, der darin die namensspendende Mühle einrichtete. Dem Bau war aber auch weiterhin kein großes Glück beschieden: Im 18. Jahrhundert wurde er ein Raub der Flammen und diente dann wieder als Speicher und Magazin. In den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschädigte ein Sturm das Dach, das daraufhin abgetragen wurde. 

Rekonstruktionszeichnung: Simon Paulus

Quelle: siehe Link am Ende des Artikels

Die kläglichen Reste wurden zwar 1980 unter Denkmalschutz gestellt, doch davon ist - außer, dass so wohl ein Abriss von privater Hand verhindert wurde – wenig zu merken. Irgendwie scheint sich niemand wirklich für diesen verwirrten alten Mann auf der Tanzfläche des modernen Lebens verantwortlich zu fühlen. Also starrt er weiterhin dement und seiner Würde beraubt in eine Welt, die nicht mehr die seine ist. 

 

Nur sein Urenkel kommt ihn manchmal besuchen und hofft inständig, dass die Stadtgemeinde Korneuburg irgendwann einen vernünftigen Plan zu seiner Rettung schmiedet, bevor er zwischen den Tanzenden endgültig in Vergessenheit gerät - oder gar sich selbst vergisst. 

 

Einen ausführlichen, sehr empfehlenswerten Artikel zur Geschichte der “Roßmühle” findet man unter diesem Link