Ich stehe, das Dunkel des beengt wirkenden Turmraums im Rücken, unter der Empore und blicke in das vergleichsweise nüchterne Innere der Litschauer Pfarrkirche Sankt Michael.
Es ist eine äußerst wenig verspielte Gotik, die sich einem hier zeigt: eine dreischiffige Hallenkirche, die in ihren Proportionen nach wie vor mittelalterlich wirkt.
Ihre heutigen Ausmaße gehen großteils auf das 14. und 15. Jahrhundert zurück, die Jugendzeit der berühmten italienischen Renaissancekünstler, Vertreter einer Kunstepoche, die hier im Norden kaum Widerhall gefunden hat.
Doch ist diese kopflastige Betrachtungsweise nicht unangebracht?
Einen Sakralraum auf kunstgeschichtliche Parameter zu reduzieren, kann ihm unmöglich gerecht werden. Viel interessanter wäre doch, ihn im Hinblick auf seine Funktion zu sehen. Für welche Menschen wurde er geschaffen? Welchen Anforderungen musste er genügen? Wie sollte er wirken?
Ich schließe die Augen.
In der Gegenwart darf ich sie nicht öffnen, nur in der Vergangenheit. Weit in der Vergangenheit. 600 Jahre muss ich zurückreisen, wenn ich verstehen möchte, wie dieser Kirchenraum gemeint ist.
All das, was ich in meiner kunstgeschichtlichen Ausbildung erfahren habe, darf ab hier nicht zur Beurteilung herangezogen werden - ich muss es verwenden, um die damalige Lebenswelt Litschaus wiederauferstehen zu lassen.
Und diese besteht, wie auch die heutige, aus Menschen. Vielen Bauern, einigen Bürgern, wenigen Edelleuten. Sie strömen in das Kircheninnere, doch nicht wie heute üblich durch das Portal in meinem Rücken. Zu meiner Linken, also auf der Nordseite, füllt sich der Raum mit Frauen, die durch die Seitentür hereintreten, die heutzutage als Behinderteneingang dient. Dieser Pforte gegenüber liegt an der Südwand eine zweite. Diese steht ebenso offen und gewährt den Männern der Stadt Einlass.
Was mir sofort auffällt, ist die ungewohnte Leere des Kirchenschiffs: Der kalte Steinboden wird weder von dem üblichen schweren Läufer noch von Kirchenbänken bedeckt, nur die Leiber der Gläubigen füllen den Raum zwischen den Granitsäulen.
Und ich muss es erwähnen: Diese Leiber stinken.
Sie stinken nach dem Rauch der Herdfeuer, sie stinken nach altem Schweiß, Exkrementen, offenen Wunden und fauligem Atem.
Gekrönt wird diese olfaktorische Flutwelle vom Weihrauch, der sanft wabernd im Chorbereich nach oben steigt. Wohl wissend, dass ich mit meiner vom 21. Jahrhundert verwöhnten Nase der einzige bin, der die Gerüche als beachtenswert wahrnimmt, versuche ich sie ebenfalls so gut wie möglich auszublenden und konzentriere mich auf die optischen Eindrücke:
Die Anwesenden stellen ihre Sonntagsgewänder zur Schau und so blitzt unter den naturfarbenen Kleidern der Frauen das eine oder andere rote Unterkleid hervor. Die Männer tragen Unterhosen mit Beinlingen, darüber Tuniken, hier und da sogar wie die der Frauen bestickt.
Es ist eine merkwürdig anteilslose Masse an Menschen, die das Kirchenschiff füllt. Zuschauer, keine Mitfeiernden.
Der leicht erhöhte Chorraum setzt sich wie eine Theaterbühne vom Publikumsbereich, dem Kirchenschiff, ab.
Auch er ist deutlich aufgeräumter als heutzutage: Kein vorgelagerter Volks- und auch kein neugotischer Hochaltar verstellen das Schauspiel, das die aufgehende Sonne hinter den Glasfenstern bietet, Auferstehung kann so unmissverständlich sichtbar gemacht werden. Eine Lichtshow ganz ohne aufwändige Beleuchtungskörper.
Zwischen den Strebepfeilern des Chors und unter den huldvoll gelangweilten Gesichtern der gräflichen Familie in ihrer Loge vollzieht der Priester die ritualisierten Handlungen. Der Altar steht weit im Osten, fern vom Publikum, und der Geistliche wendet seiner schweigenden Gemeinde die meiste Zeit den Rücken zu, flankiert von den Mitgliedern der Schola, seinen Helfern und Sängern, den in die Mysterien der Heiligen Messe zumindest teilweise Eingeweihten.
Das gemeine Kirchenvolk singt nicht, betet in Unkenntnis des Lateinischen kaum mit, kniet bei der Wandlung, steht jedoch größtenteils stumm und staunt über das elegant-weihevolle, für sie zutiefst unverständliche Schauspiel eines Ritus, der sich so geheimnisvoll gibt, dass man einfach an die Allmacht seines Gottes glauben muss.
Gerahmte Bilder und aufwändige Schnitzereien fehlen in dieser mir vertrauten und doch so fremden Kirche vollkommen. Heiligenstatuen stehen nur wenige in ihrem Inneren, sie sind an den Rand gedrängt, warten auf Anrufung, die ihnen aber in dieser Messe verwehrt bleibt.
Die Wände hingegen erstrahlen in ungewohnter Lebendigkeit: Wo heutzutage kühles Weiß dominiert, prangen Bibelszenen in Form von Fresken, gemalte Ornamente als Widerhall der architektonischen Formen in Zweidimensionalität - das Mittelalter ist bei weitem bunter als es sich 600 Jahre später darstellt. Als makaberes Stillleben liegen menschliche Knochen auf dem Golgota, wie in einem Bilderbuch werden den analphabetischen Betrachterinnen und Betrachtern Szenen aus der Bibel und Heiligenlegenden vor Augen geführt.
Vor Augen, immer wieder vor Augen.
Dieser Glaube ist kein Glaube des Wortes, er ist ein Glaube der Bilder. Es ist keine Religiosität des Denkens, es ist eine Religiosität des Sehens. Alleine deshalb muss sie wahr sein, so argumentiert der mittelalterliche Mensch.
Man muss nicht an Gott glauben, man kann ihn schauen von Angesicht zu Angesicht, in jeder Messfeier.
Dieses Gotteshaus mag neben den älteren oder zur selben Zeit entstandenen wie dem Wiener Stephansdom, Notre Dame in Paris oder dem Regensburger Dom bescheiden wirken. Doch die Häuser der Menschen, die sich hier einfinden, sind großteils aus Holz erbaut, eng und niedrig. Ein so großzügig dimensionierter Innenraum, ein dermaßen verschwenderischer Umgang mit Platzressourcen innerhalb der Stadtmauern muss diese Leute schon allein durch seine Existenz beeindrucken.
Finden in dieser steinernen Inkorporation von Macht auch noch geheimnisvolle Handlungen zu Ehren eines allmächtigen Gottes statt, so weiß jeder Bauer und jeder Handwerker ganz genau, wo sein Platz ist: mit gesenktem Kopf zwischen seinesgleichen oder auf Geheiß des Priesters hin auf dem Boden kniend.
Diese Machtdemonstration zementiert in den Köpfen der Menschen eine gottgewollte Weltordnung: Adel und Klerus stehen über dem einfachen Volk, haben von Geburt an verbriefte Rechte, die anzuzweifeln ein Aufbegehren gegen den Willen des Schöpfers selbst wäre. Die Heilige Messe, wie sie sich in diesem Moment vor meinen Augen abspielt, ist kein Aufrichten gebrochener Seelen, kein Trost, kein Kraftschöpfen für den Alltag. Es ist ein Sprachlosmachen, ein Kleinhalten, ein Mundtotmachen der Arbeitskräfte.
Jahrhundertelang wurden riesige Geldbeträge in den Ausbau dieses Gebäudes gesteckt, Generationen kannten es wohl nur als schier ewige Baustelle. Geschah dies alles nur zu Ehren einer höheren Macht? Oder brachte eine Kirche wie die Litschaus ihren adeligen Erbauern auch so etwas wie Rendite?
Ich bin davon überzeugt. Die Menschen des Mittelalters waren nicht grundsätzlich anders gestrickt als wir.
Die Frage "Was bringt mir das?" war damals genauso weit verbreitet wie heute. Vielleicht wurde sie in anderen Zusammenhängen gestellt, vielleicht mit geringfügig anders ausgerichtetem Blick, aber sie existierte.
Dementsprechend ist es naheliegend, dass diese riesige Investition in das Beeindrucken des Plebs sich rechnen musste: Faule oder gar aufständische Untertanen kosten auch heute noch ungleich mehr als funktionierende.
Die Bauernaufstände etwa hundert Jahre nach dem Ausbau der Litschauer Pfarrkirche hingen wohl auch mit dem Einfluss der Reformation zusammen, die der einfachen Bevölkerung zumindest so viel Selbstwertgefühl beschert hatte, dass sie sich nicht mehr als willenloses Werkzeug behandeln lassen wollte.
Da wird mir bewusst, dass ich abschweife.
Ich habe die Messfeier verlassen und mich wie so oft zwischen die Seiten der Geschichtsbücher verirrt.
Der Kirchenraum ist wieder leer, gefüllt nur mit dem Zierrat späterer Zeit, Zugeständnissen an eine Frömmigkeit näherer Jahrhunderte, mit Bildern behängt, mit Möbeln verstellt, umgeben von verblassten Wänden und ebensolchen Erinnerungen.
Ich drehe mich um und verlasse Sankt Michael durch das Portal nach Westen, in die Richtung, in der jeden Abend die Sonne nach ihrem Aufgehen hinter den Fenstern des Kirchenchors scheinbar nahe dem Schloss versinkt und so die Verbindung zwischen geistlicher und weltlicher Herrschaft deutlich macht.
Zumindest für diejenigen, die die Welt hin und wieder mit den Augen des Mittelalters sehen können.