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Just for fun - oder doch nicht?

Nun war es also da, das Wochenende, auf das ich seit einiger Zeit hintrainiert hatte - der "Megamarsch" in beziehungsweise um Wien. Ziel war, eine durchaus fordernde Wanderstrecke von 100 Kilometern und 1300 Höhenmetern in maximal 24 Stunden zu bewältigen.

Um auf Nummer sicher zu gehen, war mein ursprüngliches Training auf Basis langer Läufe geplant gewesen, wollte ich doch Teile der Veranstaltung joggen, um auf alle Fälle im Zeitlimit zu bleiben.

Das machte durchaus Spaß und half, meine Ausdauerleistung deutlich zu steigern. Als wirklich notwendig stellte es sich allerdings nicht heraus: Nachdem ich nämlich meinen ersten Probemarsch über etwa fünfzig Kilometer absolviert hatte, wusste ich eindeutig, dass ich die 24 Stunden auch ohne zu laufen problemlos würde unterbieten können. Das Geheimnis des Wandererfolgs bestand meiner Erfahrung nach nämlich aus Konstanz in der Bewegung und der richtigen Ausrüstung.

So konnte ich die Leistung bei meinen Probetouren Schritt für Schritt steigern, bis ich sowohl von der Auswahl des Equipments als auch von meinem Trainingszustand überzeugt war. Dementsprechend gelassen sah ich also jenem ersten Oktoberwochenende entgegen.

 

Dieses begann damit, dass ich am Freitag Nachmittag nach Korneuburg fuhr, um mit meinem Zweitgeborenen und dessen Freundin auf seinen Geburtstag anzustoßen. Zu dem von mir mitgebrachten Waldviertler Bier gab es eine wunderbare Lasagne von der Frau des Hauses und nettes Geplauder bis spät abends. Da ich die beiden nicht so oft sehe, trat hier die Vernunft ein wenig in den Hintergrund - besser wäre wohl gewesen, sich diszipliniert zu ernähren (was lediglich die Lasagne nicht kategorisch ausschließen würde) und zeitig ins Bett zu gehen, um für die Anforderungen der nächsten beiden Tage gewappnet zu sein.

Andererseits fühl(t)e ich mich zu jung, um allzu vernünftig zu agieren, wenn es mal gemütlich wird.

Am Samstag schlief ich mich bis acht Uhr aus, frühstückte entspannt mit meinen beiden Gastgebern und verabschiedete mich kurz nach elf Uhr von ihnen, da sie an diesem Tag auch noch weitere Termine hatten. Dann fuhr ich ins nahe Wien, wo ich noch etwas aß, im Auto ein Stündchen döste und meinen Rucksack einem letzten Check unterzog.

Beim Aussteigen stieß ich direkt auf einen etwas suchend dreinblickenden offensichtlichen Mitwanderer. Gemeinsam stapften wir zum Startbereich, checkten ein und warteten - teilweise im Regen und mit anderen Startern plaudernd - auf den Beginn des Megamarschs.

 

Kurz vor 16 Uhr war es soweit: Der Startbereich wurde geöffnet, gleich sollte es losgehen. Und tatsächlich - nach einigen unverständlichen Ansprachen (live und aus der Konserve) sowie ein paar verzweifelten Versuchen des ungünstigerweise etwas introvertiert erscheinenden Moderators machten sich 734 Starterinnen und Starter auf den Weg.

Während der ersten Kilometer auf der Donauinsel und durch den 19. Wiener Gemeindebezirk waren alle, die ich so beobachtete oder mit denen ich sprach, guter Dinge. Man plauderte über die mehr oder weniger intensiven Vorbereitungen oder führte klassischen Smalltalk. Das Leben war schön. Es regnete auch nicht. Und es ging flach dahin.

Dann kam der unter der Wiener Bevölkerung berühmt-berüchtigte Nasenweg auf den Leopoldsberg.

Für viele Flachlandwanderer war dieser jahrhundertealte Jagdsteig bereits eine erste Herausforderung. Nicht wenige pausierten hier erstmalig, um neue Kräfte zu sammeln. Sie sollten sie noch brauchen. Als gebürtiger Wiener wusste ich, was mich die nächsten Kilometer erwarten würde: Leopoldsberg, Kahlenberg, Hermannskogel. Der nördliche Wienerwald ist ein beliebtes Ausflugsgebiet - aber durchaus hügelig. Zusätzlich dazu brauten sich Regenwolken zusammen, die uns bis knapp vor Mitternacht mit ihrer Anwesenheit beglückten. Als ich gerade an Wiens höchster Erhebung, dem Hermannskogel, angelangt war, gesellte sich noch ein herzerfrischender Sturm dazu. Tja, Wandern ist aber nun einmal kein Hallentennis. Meine Kleidung war an solche Gegebenheiten gut angepasst, ich ebenso, also sah ich die Sache gelassen.

Die erste Verpflegsstation erreichte ich nach etwa vierstündiger Wanderung. Sie lag auf dem Gelände des Sportzentrums Marswiese im 17. Bezirk. Schnell wurde dem Körper eine halbe Banane, etwas Wurst und ein Müsliriegel als Brennstoff verabreicht und schon ging es weiter. Es folgte das meiner Meinung nach forderndste Stück der gesamten Strecke: mehrere sehr steile Passagen entlang der Mauer des Lainzer Tiergartens, aufgeweicht vom Regen, schlammig und recht rutschig. Wie ich später erfuhr, war dieser Abschnitt bereits für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Grund aufzugeben: Sie waren durch die ungewohnten Anstiege erschöpft, hatten sich bei Stürzen verletzt oder waren es einfach leid, sich wiederholt schmutzig zu machen (ja, auch das konnte ich später - etwa auf Facebook - lesen).

Gut, dass ich doch hin und wieder auch in steilerem und nicht klinisch reinem Gelände unterwegs bin, somit konnte mir all das wenig ausmachen.

Etwa um Mitternacht traf ich am zweiten Verpflegspunkt ein, gönnte mir einen Kräutertee zum Aufwärmen, leerte meine Schuhe aus - Steinchen zwischen Sohle und Fußbett können nach einiger Zeit recht unangenehm werden -, schnürte sie sorgfältig und machte mich wieder auf den Weg durch die Nacht.

Interessant fand ich, dass ich trotz der fortgeschrittenen Stunde keine Müdigkeit verspürte. Ich plauderte angeregt mit dem sehr netten Markus, mit dem ich im Endeffekt etwa fünfzig Kilometer zurücklegte. Überhaupt traf ich während der Veranstaltung einige sympathische Menschen - was wohl dem Umstand geschuldet ist, dass eine Ähnlichkeit im Wahnsinn zu einer gewissen Grundübereinstimmung führt. Wer stapft schon bei widrigsten Umständen großteils nächtens 100 Kilometer zum Spaß durch die Gegend? Niemand, der komplett alle Tassen im Schrank hat. Also ausschließlich Leute, die ganz gut zu mir passen.

 

Der weitere Weg war deutlich einfacher zu begehen und bald schon durchquerten wir städtisches Gebiet, genauer gesagt, den 23. Wiener Gemeindebezirk, benannt nach dem städtebaulich vergewaltigt-begradigten Flüsschen Liesing, dem wir für recht lange Zeit folgten. Es war auch der Heimatbezirk meines Wanderkumpans Markus, der die Streckenführung nutzte, um kurz abzuzweigen und ein paar unnötige Ausrüstungsgegenstände in seinem Büro zu deponieren. Wir verabredeten, dass ich in Favoriten (für alle Nichtwienerinnen und -wiener: Gemeindebezirk Nummer 10), am Verpflegspunkt drei, auf ihn warten würde.

Dort bemerkte ich, dass der Andrang vor den Tischen mit Wasser, Obst und auch stärker verarbeiteten Lebensmitteln dramatisch geringer war als noch bei den letzten Pop-Up-Buffets, die die Veranstalter so in die Landschaft gezaubert hatten. Der Zirkel der verbliebenen Megamarschiererinnen und -marschierer wurde elitärer. Eindeutig. Auch hörte ich in Gesprächen, dass an dieser Stelle einige das Abenteuer beenden wollten (oder verletzungsbedingt mussten).

Gerade als ich mich durch beinahe alle angebotenen Nahrungsmittel durchgekostet hatte und um zirka 4.30 Uhr langsam auszukühlen begann, erschien Markus, begierig darauf weiterzukommen - sein erklärtes Ziel war nämlich, unter der magischen Zwanzigstundenmarke zu bleiben. Somit brachen wir auf, zügigen Schrittes ein in der Dunkelheit schwierig zu findendes Wegstück über eine weite Wiese suchend. Mit Hilfe der Technik (GPS sei Dank!) waren wir aber bald wieder auf dem rechten Weg: moralisch wie geografisch. So marschierten wir durchs frühmorgendliche, noch dunkle Simmering und gelangten schlussendlich via Kraftwerk Freudenau nach Transdanubien, der nördlich der Donau gelegenen Hälfte Wiens.

Die Stirnlampe wurde während des Gehens im Seitenfach des Rucksacks verstaut und wir stapften - immer wieder von anderen Marschierenden begleitet - über die Donauinsel und am Rand der Lobau entlang Richtung Verpflegsstation 4. Da ich doch einige Jahre in der Gegend gewohnt habe, war dieser Streckenabschnitt für mich nicht nur eine etwas surreale Zeitreise, sondern auch motivationstechnisch äußerst mühsam: Die Organisatoren hatten in diesem Bereich alles getan, um uns die härteste Route zu bieten. Statt durch die malerische Lobau gingen wir über lang(weilig)e, schnurgerade Straßen unserem Etappenziel entgegen. Zach, wie der gelernte Österreicher sagt. Sehr zach.

Beim letzten Verpflegspunkt hielten wir uns ebenfalls nur kurz auf, immerhin hatten wir ja nur mehr lächerliche 20 Kilometer vor uns. Doch nun war es auch bei mir soweit: Blasen und eine beleidigte Achillessehne machten mir zu schaffen. Kilometer 80 war offenbar eine magische Grenze - wie ich später erfuhr, auch bei anderen Teilnehmern (natürlich beiderlei Geschlechts, aber ständig zu gendern, macht meinen Text auch nicht spannender). So ließ ich Markus seinen Schritt gehen und schaltete ein wenig hinunter, denn an diesem Punkt waren noch etwas mehr als 15 Kilometer zurückzulegen.

 

Ich mache es kurz:

Die landschaftlich wenig reizvolle Gegend zwischen Essling und der Asperner Seestadt in eher sinnlosen Schlaufen und in wechselnder, aber ausnahmslos netter Gesellschaft durchwandernd, gelangte ich bei strahlendem Oktobersonnenschein über Hirschstetten und über die Alte Donau wieder auf die Donauinsel, den letzten paar Kilometern vor dem Ziel, welches ich fußmarod, aber mit triumphierend-irrem Grinsen durchschritt.

Ich war knapp mehr als 21 Stunden unterwegs gewesen. Ohne lange zu rasten. Ohne zu schlafen. Bei allen möglichen Wetterbedingungen. Auf verschiedensten Untergründen. Und dafür fühlte ich mich eigentlich gut. Verdammt gut.

 

Mein Fazit:

1. Ich habe festgestellt, dass ich in den letzten ein bis zwei Lebensjahrzehnten leistungsmäßig nicht abgebaut habe, eher im Gegenteil. Diesen Trend will ich beibehalten.

2. Ich habe keine religiösen oder philosophischen Erkenntnisse durch Selbstkasteiung und Schmerznegation gewonnen, bin zum Fakir oder Märtyrer also nur sehr bedingt geeignet.

3. Schlaf wird überbewertet und ist mit aufrechtem Gang nicht unfallfrei kombinierbar.

4. Fastfood nach einem Megamarsch schmeckt extrem gut, bekommt einem deswegen aber auch nicht besser.

5. Die Idee, eine Hundert-Kilometer-Wanderung im Waldviertel, der dafür idealen Gegend, zu organisieren, hätte was.