Genius Loci

Erst vor kurzem habe ich meine Gedanken zur Polarität zwischen den Dingen um uns herum, die deutlich länger bestehen können als wir selbst, und unserem flüchtigen Dasein niedergeschrieben. Dabei habe ich vorausgesetzt, dass tote Materie – in dem Text geht es um die Drosendorfer Stadtmauer – und eventuelle menschliche oder tierische Betrachter quasi in zwei verschiedenen Welten existieren. Zu unterschiedlich sind die zeitlichen Dimensionen, die für sie relevant sind.

Da ich momentan aber auf Haussuche bin und dementsprechend viele mir neue, aber gleichzeitig sehr alte Räume betreten habe, kam mir eine weitere Möglichkeit in Zusammenhang mit diesem Thema in den Sinn, die ich auch schon immer wieder als faszinierend empfunden habe:

Inwieweit hinterlässt das, was an einem Ort passiert ist, an oder in diesem seine Spuren?

Können menschliche Emotionen so stark sein, dass sie nicht nur für andere Lebewesen spür-, sondern auch von der Umgebung speicherbar werden?

Wer mich kennt, weiß, dass ich absolut nichts von Esoterik halte - obwohl ich jeden beglückwünsche, der damit Geld verdient. Die Dummheit der Menschen will ja regelrecht bestraft werden. Und obwohl ich mit viel Spaß Gruselgeschichten schreibe, muss ich zugeben, weder ein persönliches Erlebnis noch einen Beweis für die Existenz von Geistern oder Ähnlichem vorweisen zu können. Traurig, aber wahr.

Und doch, wenn ich alte und neue Fotos desselben Ortes betrachte, kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass die Menschen und die Ereignisse, die damit verbunden gewesen sind, das auf eine stille, unaufdringliche Weise noch immer sind. Es mag ein zutiefst subjektives Empfinden sein, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass sie so etwas wie einen Abdruck hinterlassen haben.

Schon die alten Römer kannten den Begriff des „Genius Loci“, des „Ortsgeistes“.

Sie stellten ihn sogar bildhaft dar, meist in Form einer Schlange. Doch auch in späteren Jahrhunderten billigte man Orten ihre eigene Persönlichkeit, ihre eigene Ausstrahlung zu. Deutlich wird das in der Architektur – und zwar bis in die Gegenwart hinein. Kein Architekt wird sein Gebäude vollkommen losgelöst von der es umgebenden Landschaft konzipieren.

Auch ich sah bei den Hausbesichtigungen der letzten Zeit wohl mehr als das, was ein Fotoapparat festgehalten hätte. Die Plätze, an denen die Gebäude stehen, ihre Geschichte und die Schicksale, die sich in ihnen abgespielt haben, all das ist vielleicht nicht in Metern oder Gramm messbar, aber es macht die Seele der Häuser, ihren ganz eigenen Genius Loci aus.

Und was man niemals vergessen sollte:

Lässt man sich irgendwo nieder, wird man Teil davon.

Ob man will oder nicht.