I-Tüpferl-Reiter

Burg Rapottenstein ist ein hervorragendes Beispiel liebevoll erhaltener mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Baukunst. Sie weist wunderschöne Architekturbeispiele für Gotik und Renaissance auf und ist aufgrund des Umstands, nie zerstört oder wirklich verlassen worden zu sein, bis heute auch für geschichtlich nicht sonderlich bewanderte Mitmenschen ein beeindruckendes Bauwerk.

 

Man kann sie im Zuge einer knapp einstündigen Führung besichtigen, was sich aus den oben genannten Gründen durchaus auszahlt - und was ich allen geschichtsinteressierten Mitmenschen jeden Alters auch ausdrücklich empfehle. Wer sich für Burgen interessiert, für den ist Rapottenstein auf alle Fälle einen Ausflug wert.

Zur Vorbereitung empfehle ich, vorab einen Blick auf die Website des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Universität Salzburg zu werfen.

Dort wird überschaulich und fundiert auf die Geschichte der Anlage eingegangen, eine Baubeschreibung geliefert, die kaum Wünsche offen lässt, und eine ausführliche Literaturliste angeführt.

Hat man sich so vorbereitet, steht man auch großteils über den im Zuge der Führung erzählten Halb- und Unwahrheiten. Wir hörten dabei viel historisch Unhaltbares. Inhalte, die sich zwar wunderbar gruselig anhören, die sensationell anmuten und im Gedächtnis der Besucherinnen und Besucher sicher haften bleiben – letzten Endes aber zutiefst unwissenschaftlich sind. Sowohl bau- als auch sozialgeschichtlich. Übrigens ist das kein Alleinstellungsmerkmal der Führungen durch die Burg Rapottenstein, sondern etwas, das ich in den letzten Jahren immer wieder bei Besichtigungen vergleichbarer Anlagen erleben musste.

Wirtschaftshof mit dem Eingang ins "Verlies" (Bildmitte)
Wirtschaftshof mit dem Eingang ins "Verlies" (Bildmitte)

Als Beispiel sei erwähnt, dass jene Festung im Granithügel, auf dem sie errichtet worden ist, riesige, mühsam aus dem Fels gearbeitete Kavernen aufweist. Diese sind durch ein großes Tor vom Wirtschaftshof aus zu betreten. Wenn man das tut, merkt man sofort, dass die Temperatur dort schlagartig um viele Grade sinkt. An den Wänden erkennt man noch gut die Bearbeitungsspuren und wie aufwändig, technisch anspruchsvoll und mühsam das Anlegen dieser Räumlichkeiten gewesen sein muss. Unschwer sind darin über breite Treppen erreichbare Vorratsbereiche, eine Rauchküche und eine Zisterne zu erkennen.

Präsentiert werden diese aber als Kerker für Masseninhaftierungen, als Gerichtssaal, als Zellen für Einzelhaft und als Folterkeller.
Mir drängt sich nun die Frage auf: Warum hebt man nicht die technische Glanzleistung hervor, die die damaligen Baumeister vollbracht haben, um in Zeiten ohne Kühlschrank große Mengen an Nahrungsmitteln frisch zu halten? Ich denke, dass es mindestens so spannend ist zu zeigen, wie erfindungsreich und technisch fortschrittlich unsere Vorfahren waren - nicht nur, wie grausam sie (zweifelsohne in anderen Fällen auch) sein konnten.

Wie bereits angedeutet, ist dies jedoch nur ein Beispiel von vielen unhaltbaren oder zumindest sehr schwer verifizierbaren Inhalten, die im Laufe der Führung erzählt wurden. Der Mythos vom massiv verunreinigten und daher gesundheitsschädlichen Wasser, das aus hygienischen Gründen durch Alkoholika ersetzt werden musste, fand sich hier genauso wie die mittlerweile auch längst widerlegte Mär von der zwergenhaften Statur der Menschen im Mittelalter. Nachdem unsere (durchaus charmante und eloquente) Führerin erzählt hatte, dass die damalige Durchschnittsgröße zwischen 140 und 150 Zentimeter lag, fiel ihr offensichtlich die Diskrepanz zur Größe der ausgestellten Rüstung auf. Deshalb ergänzte sie auch wie beiläufig, dass diese ja nur eine Replik und deshalb deutlich größer sei. Warum auch immer.

Bin ich pingelig? Ein Erbsenzähler? Oder auf gut Österreichisch ein I-Tüpferl-Reiter?
Ich bin überzeugt, dass diese und andere Unwahrheiten nicht böswillig unters staunende Volk gebracht werden. Es sind romantisch-skurrile Ausschmückungen, die zum Teil nachweislich seit dem 19. Jahrhundert existieren, einer Zeit, in der Romantik, Schauder und Wissenschaft in der Literatur (manchmal sogar in der akademischen) ineinanderflossen. Da sie als Geschichten aber so gut funktionieren, halten sie sich hartnäckig bis heute.

Aber muss das wirklich sein?

Konsequent weitergedacht haben wir dann irgendwann an historischen Stätten nur mehr eine Art Disneyland, in dem billige Gruselgeschichten als Bildung ausgegeben werden. Welche Art Mensch man damit heranbildet, kann man sich vorstellen.

Ich halte es da mit Ingeborg Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.

Wenn man sie dementsprechend begeistert und begeisternd erzählt, ist sie auch durchaus unterhaltsam.

Davon bin ich überzeugt.