
In einem (mittlerweile auch bald 100 Jahre alten) Sagenbuch findet man die Sage der weißen Frau von Bernstein. Sie lautet – etwas gestrafft und modernisiert – so:
Vor langer Zeit lebte auf Schloss Bernstein ein Graf, der in den Krieg gegen die Türken zog und seine junge Frau der Obhut eines Knappen überließ. Als der Graf heimgekehrt war, erfuhr er von der Untreue seiner Ehefrau. Er wollte sich aber selbst überzeugen, ob das üble Gerede auf Wahrheit beruhe, ehe er sie bestrafte. Er täuschte ihr daher eine längere Reise vor und nahm rührenden Abschied. Aber schon am Abend des nächsten Tages erschien der Graf ganz unvermutet im Schlosshof. Er eilte in das Gemach seiner Frau und fand sie in den Armen des Knappen. Wutentbrannt stach er den Liebhaber nieder und seine untreue Frau ließ er noch in derselben Nacht im schwarzen Turm einmauern.
Jahre vergingen. In einer stürmischen Herbstnacht saß der vereinsamte Graf in seinem Gemach. Da tat sich plötzlich die Tür auf und herein trat seine tote Frau in einem weißen Gewand. Sie blickte ihn flehend an und winkte ihm, ihr zu folgen. Dann verschwand sie wie in einem Nebel. Er schrie wie wahnsinnig um Hilfe und erzählte seinem Leibjäger das schauerliche Erlebnis. Dann tat er noch einen schweren Seufzer und fiel, vom Schlage gerührt, tot zu Boden.
Seitdem wurde die weiße Frau auf Schloss Bernstein schon wiederholt gesehen.
Heute wird Burg Bernstein im Bezirk Oberwart von der Besitzerfamilie Almásy als Hotel geführt. Der vielleicht berühmteste Spross dieser Familie wurde übrigens 1895 ebendort geboren: Es handelt sich um László (Ladislaus) Almásy, der als Forscher, Pilot, Weltkriegsoffizier, Rennfahrer sowie maßgeblicher Mitgestalter der Pfadfinderbewegung ein ziemlich turbulentes Leben führte. Im oscarprämierten Film „Der englische Patient“ wurde er von Ralph Fiennes dargestellt. Ich denke, spätestens jetzt wird klar, warum der Name einem irgendwie vertraut vorkommt. Zumindest wenn man ein Faible für Filmromanzen hat.
Doch ich schweife ab. Zurück zur gespenstischen Frau:
Sagen über diese oder ähnliche Erscheinungen gibt es in ganz Europa. Sie sind seit Beginn der frühen Neuzeit dokumentiert und scheinen seit jeher vor allem die Funktion zu haben,
Adelsgeschlechtern spannendere Familiengeschichten zu bescheren. So gut wie immer beziehen sie sich wie die obige Sage auf dramatisch zu Tode gekommene Damen aus gutem Hause, die aus diesem Grund
(warum auch immer) vorwiegend nächtens als Lichtgestalten durch ihre ehemaligen Domizile wandeln. Ab und zu wird versucht, jene weißen Frauen mit historisch verbürgten Vorfahrinnen in Verbindung
zu bringen. Dumm nur, dass diese meistens erst lang nach ihren angeblichen Mördern das Zeitliche gesegnet haben, wie man unschwer erkennt, wenn man ein wenig nachforscht.
Kurz und gut, es scheint deshalb so zahlreiche weiße Frauen zu geben, weil es vor allem im 17. Jahrhundert in Adelskreisen regelrecht zum guten Ton gehörte, eine solche auf einem seiner Besitztümer beziehungsweise im Stammbaum vorweisen zu können.
Ja, auch Gespenster sind durchaus der Mode unterworfen.