Unterirdisch

Es ist Sonntag, ein Sonntag Anfang Juni. Ein Boot gleitet geräuschlos über die spiegelglatte Oberfläche des unterirdischen Sees, des größten in ganz Europa. Das gerade einmal acht Grad kalte Wasser reflektiert das Licht der effektvoll an den Felswänden montierten bunten Scheinwerfer. Staunend blicken sich die Insassen des Elektroboots um. Die Touristengruppe kann sich der Magie des Ortes nicht entziehen, ja, will das auch gar nicht. Die Menschen sind schließlich in die „Seegrotte“ gekommen, um sich verzaubern zu lassen. Verzaubern von der Stille hier sechzig Meter unter der Erde, von der Kühle, von den Schatten.

Auch ich sitze in dem Boot, den Kopf voller Kindheitserinnerungen, voller Gedanken an die Ausflüge, die ich mit meinen Eltern und Großeltern hierher unternommen habe.

Es ist aber keine natürliche Höhle, in der wir uns befinden. Es ist ein von Menschen angelegtes Stollensystem. Gänge, die ab dem Jahr 1848 in den Wagnerkogel in der niederösterreichischen Marktgemeinde Hinterbrühl gesprengt worden sind. Damals stieß ein Müller beim Brunnenschlagen in fünf Metern Tiefe auf eine Gipsader. Gips, der ja sonst eher als Baustoff bekannt ist, kann auch ein wertvoller Dünger sein – und als solchen baute man ihn dort in den folgenden Jahrzehnten fleißig ab. Im Jahr 1912 allerdings brachen durch eine Sprengung, die der Erweiterung des Bergwerks dienen sollte, mehr als 20 000 Kubikmeter Wasser in das Stollensystem ein. Eine Katastrophe: Die Arbeit in der Abbaustätte war von einem Tag auf den anderen unmöglich geworden. Sechs Jahre lang blieb es in dem Bergwerk, in dessen dunkler Tiefe sich ein eiskalter 6200 Quadratmeter großer See gebildet hatte, still.

Dann erwarb der Wiener Likörfabrikant Friedrich Fischer das aufgelassene Bergwerk. Er war ein durchaus origineller Kopf. Seine ursprüngliche Idee war, darin ein Vergnügungsetablissement einzurichten. Später wollte er in den Stollen Champignons ziehen. Die konstanten neun Grad Lufttemperatur waren allerdings dann doch zu kalt für die Pilze. So machte er aus der Not eine Tugend: Das aufgelassene Gipsbergwerk sollte zur Touristenattraktion werden. Man legte Stromleitungen in die Stollen und eröffnete am 8. Juni 1932 das Schaubergwerk. Auf dem unterirdischen See verkehrte – wie noch heute – ein Elektroboot. Im Jahr 1936 übernahm ein neuer Pächter die Touristenattraktion, die mittlerweile wirklich zahlreiche Neugierige anlockte. Im Jahr 1937 und 1938 etwa besuchten zirka 50 000 Gäste die „Seegrotte“.

Selbst der Ausbruch des zweiten Weltkriegs konnte die Anziehungskraft dieses beliebten Ausflugsziels nicht brechen.

Nicht sofort.

Noch immer ist Sonntag, jener Sonntag Anfang Juni.

Ich stehe im hohen Gras eines recht naturbelassenen Grundstücks. Doch es ist nicht einfach ein verwilderter Garten, in dem ich mich befinde. Es ist mehr. Es ist ein Ort mit Geschichte. Einer schrecklichen Geschichte. An diese erinnern die Mahnmale, die auf dem Grundstück verteilt sind: gravierte Steinplatten, Holzkreuze, eine schwarze Steinstele mit zahlreichen Namen und hinten in der Ecke etwas, das auf den ersten Blick wie eine übergroße Vogeltränke wirkt. Doch es ist keine, das weiß ich. Nicht nur, weil das Relikt beschriftet ist, sondern weil ich so etwas schon mehrmals gesehen habe. Es ist ein Waschbecken. Ein Waschbecken, wie es in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs Verwendung gefunden hat. Kreisrund. Steinern. Unspektakulär. Und doch getränkt vom Leid jener, die sich darin Schweiß, Tränen und Blut vom Körper gewaschen haben.

Ich stehe dort, wo 1944 und 1945 die Baracken des KZ-Außenlagers Hinterbrühl gestanden sind. Die Vögel zwitschern, es ist warm, bis eben war ich in bester Sonntagsstimmung. Meine Neugier hat mir wieder einmal einen Dämpfer versetzt. Egal. Was hatte ich denn erwartet? Wer sich eine KZ-Gedenkstätte ansieht, kann nicht erwarten, im unbeschwerten Ausflüglermodus zu bleiben. Zumindest nicht, wenn er Vorstellungsvermögen und Empathie mitbringt. Auch wenn es manche Leute anders sehen – ich denke schon, dass ich über beides verfüge. Zumindest in Ansätzen.

Aber weder mein Charakter noch mein Seelenleben sollten der Inhalt dieses Blogartikels sein. Denke ich zumindest. Also zurück zum eigentlichen Thema: dem Konzentrationslager in der idyllischen Wienerwaldgemeinde Hinterbrühl.

Wer heute den Begriff „Konzentrationslager“ hört, hat wahrscheinlich sofort riesige Areale vor dem inneren Auge und denkt an Namen wie Auschwitz, Dachau oder als Österreicherin beziehungsweise Österreicher an Mauthausen.

In diesem Zusammenhang übersieht man oft, dass es im Dritten Reich auch Außenstellen jener großen Konzentrationslager gab. Außenstellen, die dort lagen, wo man die Insassen als Arbeitssklaven einsetzen konnte. Eine dieser Außenstellen war das KZ in Hinterbrühl.

Es führte den harmlos klingenden Decknamen "Lisa" und gehörte zum Lagerkomplex des KZ-Außenlagers Floridsdorf. Jenes befand sich übrigens am heutigen Gelände des FAC, des „Floridsdorfer Athletik-Clubs“, zwischen Prager- und Koloniestraße im 21. Wiener Gemeindebezirk.

Das Hinterbrühler Konzentrationslager hingegen lag entlang der heutigen Johannesstraße. Es bestand aus vier großen Baracken, die von einem elektrischen Stacheldrahtzaun umgeben waren. Die Wachposten waren auf vier Türmen stationiert. Seine übliche Belegschaft zählte rund 800 Häftlinge. Da bei der Evakuierung zu Kriegsende fast alle Transporte der Außenlager zurück nach Mauthausen über Hinterbrühl als Sammellager geführt wurden, befanden sich dort jedoch kurzzeitig etwa 1.800 Gefangene. Ja, manche Zeitzeugen berichten sogar von mehr als 3.500 Häftlingen, die zumindest für kurze Zeit in Hinterbrühl interniert waren.

Warum aber war bei der Seegrotte überhaupt ein Konzentrationslager errichtet worden?

Für ein solches Ausflugsziel benötigte man doch keine Arbeitssklaven?

Oder vielleicht doch?

Am 1. Mai 1944 war es hochoffiziell vorbei mit der „Seegrotte“. Die vormalige Touristenattraktion wurde vom NS-Staat beschlagnahmt und ab August desselben Jahres leergepumpt. Von Anfang an wurden für die Arbeit unter Tage KZ-Häftlinge als billiges und einfach ersetzbares Menschenmaterial herangezogen. Sobald auch die tiefen Stollen trockengelegt waren, begann dort, mehr als sechzig Meter unter der Erde, die Produktion der Rümpfe für den Düsenjäger He 162. Dieses Jagdflugzeug der Firma Heinkel, das auch „Volksjäger“, „Spatz“ oder „Salamander“ genannt wurde, war gegen Ende des Krieges und in großer Eile entwickelt worden. Dementsprechend störanfällig war es auch. In ihm starben mehr deutsche Piloten durch Defekte als durch Feindeinwirkung. Besonders tragisch war dieser Umstand, da es in vielen Fällen nicht von erwachsenen, gut ausgebildeten Piloten, sondern von Mitgliedern der Hitlerjugend geflogen wurde, die lediglich einen Flieger-Schnellkurs durchlaufen hatten. Die mögliche Flugzeit dieses „Volksjägers“ betrug nicht einmal eine Stunde. Daher führten Navigationsfehler fast zwangsläufig zu einem Absturz – ohne Treibstoff, sprich ohne Antrieb, war der „Spatz“ nämlich kaum zu landen.

Neben jenem Flugzeug wurden in den Stollen der „Seegrotte“ auch Teile der V2-Rakete und des Nachtjägers He 216 von den Insassen des Konzentrationslagers an der Johannesstraße gefertigt.

Die Gefangenen arbeiteten zu Beginn in zwei Schichten mit jeweils zwölf Arbeitsstunden, später in drei Schichten zu jeweils acht Arbeitsstunden. Das wohl weniger, um die Arbeitsbedingungen für die Häftlinge zu verbessern, sondern eher, weil sich diese Variante als effizienter herausgestellt hatte.

Effizienz war das Zauberwort in jenen Tagen, nicht Menschlichkeit.

Wer sich jemals auch nur oberflächlich mit dem Leben in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs beschäftigt hat, weiß das.

Am besten kann man die Unmenschlichkeit jener Lager übrigens nachvollziehen, wenn man sie nicht als wissenschaftliches Objekt begreift, nicht als historischen Begriff, sondern sich die Biografien der davon betroffenen Menschen näher ansieht. Natürlich bleibt uns der Schrecken dieser Zeit trotzdem noch fern, die Lautstärke gedämpft und die Bilder verzerrt wie hinter einer Milchglastür, aber zumindest kann man erahnen, was sich hinter dieser abgespielt hat.

Im Fall des KZs in Hinterbrühl möchte ich also den Blick auf das Leben eines bestimmten Insassen werfen. Auf das eines Italieners namens Marcello Martini.

Marcello Martini 1943, Quelle: Wikidata
Marcello Martini 1943, Quelle: Wikidata

Marcello Martini stammte aus einer Lehrerfamilie. Sein Vater war im antifaschistischen Widerstand aktiv. Das wurde im Frühling des Jahres 1944 entdeckt und Marcellos Mutter, seine Schwester und er selbst wurden festgenommen. Lediglich der Vater konnte entkommen.

Während seine Mutter und seine Schwester in einem Florentiner Gefängnis inhaftiert wurden, brachte man den damals erst vierzehnjährigen Marcello in das Durchgangslager Fossoli, wo er vom 12. bis 21. Juni 1944 blieb.

Weiter ging es für den Jugendlichen gemeinsam mit 473 anderen Gefangenen in das KZ Mauthausen. Dort wurde er unter der Nummer 76 430 registriert. Jede und jeder Inhaftierte erhielt damals bei der Aufnahme in ein KZ-Stammlager eine Häftlingsnummer. Ab diesem Zeitpunkt hatte man im Lager keinen Namen mehr, sondern wurde von dem Wachpersonal ausschließlich mit dieser Nummer angesprochen. So wurde einem unmissverständlich mitgeteilt, dass man kein Mensch mehr sei. Dementsprechend hatte man selbstverständlich auch keine menschliche Behandlung zu erwarten.

Der junge Marcello wurde zuerst in das KZ-Außenlager in Wiener Neustadt gebracht und erstmalig als Arbeitssklave in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Bald schon erlitt er dort aber einen schweren Arbeitsunfall, von dem er sich erst Monate später wieder erholte. Ende des Jahres 1944 wurde er schließlich nach Hinterbrühl gebracht, um dort in den Stollen des ehemaligen Gipsbergwerks zum Bau der erwähnten Flugzeuge und Raketen eingesetzt zu werden.

In dem Buch „Mit 14 Jahren im KZ“ erzählte Marcello Martini von seiner Todesangst beim Transport in Viehwaggons nach Mauthausen, von den Drohungen der SS-Soldaten, für jeden Geflohenen zehn andere Gefangene zu erschießen. Er berichtete vom Leben im Konzentrationslager aus der Sicht eines Vierzehnjährigen, von Entbehrungen, Gewalt, von körperlichen und seelischen Misshandlungen.

Was etwa ging in der Seele eines Jugendlichen vor, der mitansehen musste, wie die Funktionstüchtigkeit des Elektrozauns im Hinterbrühler KZ für Besucher dadurch demonstriert wurde, dass man wahllos einen Häftling in den Zaun warf und dort sterben ließ? Nur selten sei so etwas wie Menschlichkeit bei manchen Soldaten der Wachmannschaft aufgeblitzt, das Überleben habe er vor allem dem Zusammenhalt der italienischen Gefangenen zu verdanken gehabt, berichtete Martini.

Dr. Marcello Martini, Quelle: KZ-Gedenkstätte Mauthausen
Dr. Marcello Martini, Quelle: KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Als die Alliierten mehr und mehr an Boden gewannen, wurden Häftlinge aus anderen KZ-Außenlagern wie Floridsdorf oder Schwechat-Heidfeld nach Hinterbrühl transportiert.

Am Abend des 31. März 1945, dem Karsamstag, war die Evakuierung des Lagers am nächsten Tag bereits beschlossene Sache. Um sich Schwierigkeiten mit gehunfähigen Häftlingen zu ersparen, befahl der Lagerleiter, SS-Untersturmführer Anton Streitwieser, Spitzname „Der schöne Toni", die möglichst geräuscharme Tötung von über 50 Inhaftierten. Diese sollte mittels Benzininjektion ins Herz noch in der Nacht vor dem Abmarsch erfolgen. Der alkoholisierte Sanitätsgehilfe, der mit dieser Aufgabe betraut war, setzte die Spritzen aber teilweise in die Lungen und nicht in die Herzen der Delinquenten. Die Folge war ein langsamer, qualvoller Tod. Manchmal sogar so langsam, dass die Opfer noch in Todesangst aus dem Massengrab kriechen konnten, in das man sie geworfen hatte, und von den Wachen erschossen werden mussten.

So wurde das KZ in Hinterbrühl am 1. April 1945, dem Ostersonntag, aufgelöst, da es im Angesicht des näherrückenden Feindes nicht mehr zu halten war. 1.884 Häftlinge wurden über 200 Kilometer weit zu Fuß ins KZ Mauthausen getrieben, nur 1.624 erreichten ihr Ziel tatsächlich. Marcello Martini erzählte in dem erwähnten Buch, dass bei jenem Todesmarsch an einem Tag fünf Gefangene zu viel gezählt wurden. Das Problem löste ein SS-Mann, indem er kurzerhand fünf Häftlinge erschoss. Korrekte Buchhaltung schien in der NS-Diktatur weit vor Menschenleben zu rangieren.

Bedingt durch seine Jugend und die Hilfe seiner Mithäftlinge erreichte der mittlerweile Fünfzehnjährige allerdings das KZ Mauthausen.

Marcello Martini und ein gewisser Franco Cetrelli – oder, wie er damals angesprochen worden wäre, Nummer 126 119 – waren mit vierzehn Jahren die jüngsten Italiener, die nach Österreich in ein KZ deportiert worden waren. Cetrelli allerdings wurde noch eilig erschossen, bevor die 11. US-Panzerdivision im Konzentrationslager Mauthausen eintraf.

Martini überlebte, kehrte nach Italien zurück, heiratete, studierte und schwieg lange Jahre seines Lebens zu den Erlebnissen seiner Jugendzeit.

Erst viele Jahre später kam er erstmals wieder mit einer Reisegruppe in die Gegend. Während die anderen Touristen die „Seegrotte“ besuchten, wanderte er zur KZ-Gedenkstätte. Seit damals besuchte Marcello Martini Hinterbrühl mehrfach und war nun auch bereit, seine Erlebnisse zu teilen.

Am 14. August 2019 starb mit ihm der letzte ehemalige Insasse jenes Lagers. In seinem Testament verfügte er, dass ein Teil seiner Asche im "Sacrario", dem Heiligtum, wie er die KZ-Gedenkstätte nannte, beigesetzt werden sollte – was auch geschah.

Noch immer ist Sonntag, jener Sonntag Anfang Juni. Es ist warm, die Vögel zwitschern, es duftet nach Frühsommer. Ich werde noch einen Spaziergang unternehmen. Einen Spaziergang zur Burg Liechtenstein oder in die Mödlinger Fußgängerzone. Ein Eisbecher käme jetzt gerade recht.

Im selben Moment schäme ich mich dieser Gedanken.

Beim Verlassen des etwas verwilderten Grundstücks, auf dem sich die Gedenkstätte befindet, fühle ich mich sogar deutlich betreten. Ob die Bewohnerinnen und Bewohner jener durchaus noblen Immobilien, die entlang der Johannesstraße stehen, hin und wieder daran denken, welche bestialischen Taten dort begangen worden sind, wo sich heute ihre gepflegten Rasenflächen, ihre Swimmingpools, ihre Wohnzimmer oder ihre Terrassen befinden?

Wer weiß?