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Hass lebt ewig

Ein kleiner Tellerlift an einem sanften Hang, eine riesige aufblasbare Giraffe, lachende Kinder auf dem Podest nach dem Abschlussrennen des Skikurses, vor ihnen ein geradezu unheimlich gut gelaunter, jubelnder Pandabär. Okay, kein ganz echter. Kleine und größere Kinder rutschen auf den Brettln, die die Welt bedeuten, über den schon etwas zusammengeschobenen Schnee. Die „Kinderwelt Rinn“ in der Nähe von Hall in Tirol ist ein guter Ort, um das Skifahren zu erlernen. Auch Zwei- und Dreijährige tummeln sich dort – ohne zu wissen, dass ein Altersgenosse der wohl berühmteste Bürger Rinns ist. Oder besser war. Oder vielleicht nicht einmal das.

 

Aber beginnen wir von vorn:

Am 26. November 1459 (und damit exakt 507 Jahre vor dem Verfasser dieser Zeilen) wurde Andreas, genannt Anderl, in Rinn als Sohn von Maria und Simon Oxner geboren. Bald darauf jedoch starb der Vater und die Mutter zog mit dem Kind zu seinem Taufpaten Johann. 1462 erblickten jüdische Händler, die sich auf der Durchreise befanden, dort den kleinen Andreas. Sie versuchten ihn zu entführen, was die Mutter jedoch rechtzeitig bemerkte und verhinderte. Kurze Zeit später jedoch lernten dieselben Juden Andreas Taufpaten kennen und boten ihm an, das Kind für einen Hut voller Geld zu kaufen. Um ihn zu beruhigen, versicherten sie, dass Anderl es bei ihnen besser haben würde. Dieser Johann war Alkoholiker und hochverschuldet. Insofern kam ihm das Angebot gerade recht. Er vereinbarte mit den Händlern einen Übergabezeitpunkt, an dem die Mutter auf dem Feld beim Kornschnitt war.

Alles klappte (bis auf eine kleine Zeitverzögerung wegen eines Gewitters) wie geplant. Sobald die Juden das Kind in ihrer Gewalt hatten, brachten sie es zu einem großen Stein in einem Birkenwäldchen. Dort zogen sie Anderl aus, würgten ihn, damit er nicht schreien konnte, stachen wiederholt auf ihn ein und fügten ihm tiefe Schnittwunden zu. Das Blut fingen sie auf, um es sorgfältig in Gefäße zu füllen. Nachdem das Kind tot war, hängten sie den ausgebluteten Körper an eine der umstehenden Birken. Danach verschwanden sie, ohne dass man sie je wieder gesehen hätte.

Während die Mutter noch auf dem Feld war, fielen ihr plötzlich wie aus dem Nichts drei Blutstropfen auf die Hand. Mit einer schrecklichen Vorahnung lief sie nach Hause und fand dort tatsächlich ihr Kind nicht mehr vor. Zuerst wollte der Taufpate nichts sagen, gab dann aber zu, dass er Anderl den jüdischen Kaufleuten übergeben habe, und versuchte sofort, Maria Oxner zu beschwichtigen: Die Männer hätten versprochen, dem Kleinen eine gute Ausbildung zukommen zu lassen. Außerdem werde er den Betrag selbstverständlich mit ihr teilen. Als Johann jedoch das Geld aus dem Hut nahm, verwandelte es sich zu Weidenblättern. Dieser Anblick machte ihn verrückt, er konnte kein Wort mehr sprechen und verfiel in blindwütige Raserei. So musste er an einer Kette in der Stube gehalten werden. Als das für die anderen Bewohner des Hauses untragbar wurde, kettete man ihn im Stall an. Zwei Jahre lang vegetierte er so dahin, bis er endlich starb.

Doch das waren nicht die einzigen geheimnisvollen Vorkommnisse:

Die Leiche des kleinen Andreas war feierlich in Rinn bestattet worden und auf seinem Grab wuchs eine weiße Lilie. Diese wurde von den Söhnen einer gewissen Familie Pögler abgerissen. Daraufhin starben sie und auch fast alle anderen Familienmitglieder einen plötzlichen Tod.

Die Birke, an der Anderls Leichnam gehangen hatte, grünte sieben Jahre lang durchgehend. Der Ziegenhirte, der sie später fällte, stürzte und brach sich das Bein – außerdem verstarb er jung.

 

Eine Legende war geboren. Oder auch nicht.

Es ist durchaus merkwürdig: Aus dem Zeitraum nach der – doch sicher aufsehenerregenden – Tat ist kein einziges Zeugnis erhalten. Nirgends wird ein bestialischer Ritualmord erwähnt. Kein Schriftstück, kein Bauwerk, kein Gedenkstein, nichts aus dem 15. Jahrhundert weist darauf hin, dass durchreisende jüdische Händler ein Kind der Dorfgemeinschaft gekidnappt und ermordet hätten.

Wie also kommt es, dass noch heute, über ein halbes Jahrtausend später, Anderl-Gedenkveranstaltungen abgehalten werden? Inklusive Feldmesse vor und in dem Wohnhaus des Anderl von Rinn, Devotionalienhandel, Festschriften etc.? Wie kommen bis heute Menschen auf die Idee, das Kind als „Heiligen Andreas“ zu betiteln?

Um das zu ergründen, müssen wir nachforschen, wie die Legende des Anderl von Rinn wirklich entstanden ist. Erst dann werden wir verstehen, warum sie so lange überleben konnte. Und erst dann werden wir erkennen, worin der eigentlich schreckliche Anteil dieser Geschichte besteht.

Eineinhalb Jahrhunderte lang gab es – wie bereits erwähnt – keinen Hinweis auf den Ritualmord an Andreas Oxner. Erst im Jahr 1621 findet sich die Geschichte in einem Programmheftchen für eine Theateraufführung. Dabei handelte es sich jedoch um kein normales Unterhaltungsstück, sondern um ein Jesuitendrama. Dazu muss man wissen, dass der Jesuitenorden zu dieser Zeit Theaterstücke aufführte, die einzig und allein den Zweck hatten, das Publikum von der Überlegenheit der römisch-katholischen Lehre zu überzeugen. Immer mehr Menschen waren ja zum evangelischen Glauben übergetreten und die katholische Kirche sah sich gezwungen, ihre mangelnde Volksnähe durch andere Vorzüge zu übertünchen. Dazu warf sie eine ausgeklügelte Marketingmaschinerie an, die eine neue Form der Massenunterhaltung schuf: eben das bereits genannte Jesuitentheater. Dramatische Geschichten wurden mit allem, was die aktuelle Bühnentechnik hergab, in damals beispiellosen Shows dem Publikum präsentiert. Atemberaubende Special Effects, verknüpft mit der Botschaft, dass der katholische Glaube machtvoller als alles war, was diese schnöde Welt an Widrigkeiten bieten konnte, sollten die Menschen zurück zum Katholizismus bringen. Oder sie zumindest nicht zum Protestantismus abwandern lassen. Das Motto lautete: Seht her, wir haben die Wunder, das Geheimnisvolle und vor allem diese megacoolen Heiligen!

 

Genau ein solches Stück war auch jenes mit dem Titel „Von dem heiligen dreijährigen Kindlein Andreas“. Die Autoren waren Mitglieder des Jesuitenkollegs von Hall, wo das Drama 1621 auch auf die Bühne kam. Ideengeber war höchstwahrscheinlich der damalige Arzt am adeligen Damenstift in Hall, ein gewisser Hippolyt Guarinoni. Dieser stand nachweislich in engem Kontakt mit dem Jesuitenkolleg und hatte eigenen Angaben zufolge kurz zuvor von dem einstigen Vorfall erfahren. Ohne konkrete Quellen zu nennen, schrieb Guarinoni die Geschichte des Anderl von Rinn nieder. Er scheute sich auch nicht anzuführen, dass ihre wichtigsten Inhalte seinen Träumen entsprungen seien. Eine zweite Quelle war mit Sicherheit die Geschichte des Simon von Trient, eines Kindes, dessen Tod im 15. Jahrhundert in einem sogar damals höchst umstrittenen Gerichtsprozess zum Ritualmord stilisiert worden war, um sich der einflussreichsten Juden der Stadt zu entledigen. Ganz zufällig waren alle Zeugenaussagen in diesem Prozess von Menschen getätigt worden, die Schulden bei den Beklagten gehabt hatten. Sicher genau so ein Zufall wie der Umstand, dass Hippolyt Guarinoni, der Erfinder des Tiroler Ritualmordes, aus eben jener Stadt Trient stammte. Die klassischen Fake-News-Zutaten also: ein kleiner Anteil Realität und ganz viel Fantasie. Ein Rezept, das offenbar im Barock genauso funktionierte wie im Computerzeitalter.

 

Wie auch immer, die Legende des Anderl von Rinn war geboren und in einem Theaterstück verarbeitet worden. Nun musste der Hype aufrechterhalten werden. So tauchten plötzlich die angeblichen Gebeine des Anderl auf. Guarinoni untersuchte sie – immerhin war er ja Arzt – und stellte unmissverständlich klar, dass dem Kind ganz offensichtlich exakt 20 Wunden beigebracht worden waren, an denen es verstorben sein musste. Es war Zeit für den nächsten Schritt: Guarinoni veröffentlichte prompt ein Buch, in welchem er die Geschichte in Reimform erzählte. Auch danach publizierte er fröhlich weiter zu dem Thema. Mittlerweile hatten sich aus dem Jesuitendrama Volksschauspiele entwickelt. Diese sogenannten „Anderlspiele“ trugen einen weiteren großen Baustein zur Popularität der Geschichte bei. Nachdem es also nun eine bekannte Legende plus dazugehöriger Reliquie gab, war der nächste logische Schritt der Bau einer Wallfahrtskirche. Am besten direkt über dem Tatort. Gesagt, getan. Praktisch, dass Guarinoni auch als Architekt aktiv war – so fiel dieses Projekt ebenfalls unter seine Aufsicht. Erfolg auf der ganzen Linie für den umtriebigen Universalgelehrten. Und Einkünfte ohne Ende. Guarinoni häufte ein beträchtliches Vermögen an.

Quelle: heiligenlexikon.de
Quelle: heiligenlexikon.de

Doch nicht nur Anderls geistiger Vater verdiente gut an ihm. Seit 1678 die Kirche über dem „Judenstein" errichtet und in ihr die vermeintliche Reliquie ausgestellt worden war, profitierte auch die Gegend von den Wallfahrern, die natürlich ihr Geld in der Region ausgaben. Der Grundstein für den lokalen Tourismus war gelegt. 1755 erließ Papst Benedikt XIV. die Constitutio „Beatus Andreas", was einer Seligsprechung des Andreas Oxner gleichkam. Wer zum „Judenstein“ pilgerte, genoss einen „ewigen vollkommenen Ablass". In modernem Sprachgebrauch könnte man von einer „Sündenflatrate“ sprechen. Der Wallfahrertourismus boomte regelrecht.

Zwar war Guarinoni bereits 1654 in Hall verstorben, doch das Produkt seiner Träume und literarischen Ambitionen dachte gar nicht daran, diese Welt zu verlassen. Seine Popularität war nach wie vor ungebrochen: Selbst die Brüder Grimm veröffentlichten im Jahr 1816 die Geschichte des Anderl von Rinn in ihrer Sammlung deutscher Sagen.

Obwohl in Historikerkreisen längst klar war, dass es weder diesen noch andere jüdische Ritualmorde gegeben hatte, ließ erst im Jahre 1953 der Innsbrucker Bischof Paulus Rusch den Festtag des Anderls von Rinn aus dem kirchlichen Kalender streichen. Um den weiterhin stattfindenden Kult zu unterbinden, wurde 1985 die (wie man mittlerweile wusste) aus Kinderknochen gebastelte angebliche Reliquie aus der Kirche entfernt und bestattet. Das allein nutzte allerdings wenig, denn erst 1994 wurde der Kult vom Innsbrucker Bischof Reinhold Stecher offiziell verboten und die Wallfahrt untersagt. Das Fresko mit der Darstellung des Ritualmordes wurde bedeckt und die Kirche von Judenstein in „Mariä Heimsuchung“ umbenannt.

Allerdings pilgern bis heute am Sonntag nach dem 12. Juli – also dem angeblichen Todestag des Anderls von Rinn – hunderte Menschen aus Deutschland, Italien und ganz Österreich in die knapp 2000 Einwohner zählende Tiroler Gemeinde. Trotz des Verbots werden bei der ehemaligen Wallfahrtskirche Gedenkfeiern abgehalten. Es wird gebetet. Es werden Devotionalien verkauft. Auch beim „Anderl-Hof“, dem vermeintlichen Wohnsitz des Kindes, gibt es Feldmessen. Im Haus versucht man, dem erfundenen Märtyrer nahe zu sein, auch dort wird gebetet. Dass dieser Hof erst 200 Jahre nach Anderls angeblichem Tod errichtet worden ist, stört die Leute offenbar nicht im Geringsten. Auch so manchen Priester nicht. Glaube ist eindeutig stärker als Logik.

 

All das ist vielleicht naiv, kindlich, eventuell ein wenig dümmlich, aber harmlos. Könnte man meinen. Leider ist es das bei genauerem Hinsehen nicht. Was dort jeden Juli von radikalchristlichen Fanatikern betrieben wird, ist nichts anderes als eine Demonstration von blankem Antisemitismus. Es ist ein Festhalten an einem tradierten Feindbild. Zurschaustellung eines Denkens, das jeder vernünftigen Grundlage entbehrt. Zelebrieren einer Geisteshaltung, die vor gar nicht allzu langer Zeit sechs Millionen unschuldige Menschen – ja, auch Kinder in Anderls Alter – das Leben gekostet hat.

 

Es sind diese vermeintlich braven Christen, die öffentlich ihren blanken Hass zur Schau stellen, welche mich wirklich erschrecken. Deutlich mehr, als eine erfundene Gruselgeschichte das je könnte.