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Humangastronomie

Ja, es stimmt. Wir Österreicher essen gern. So gern, dass von den nicht ganz neun Millionen Einwohnern immerhin etwa zweieinhalb Millionen übergewichtig sind. Über eine Million sogar krankhaft fettleibig. Der Karikaturist Manfred Deix – Gott hab ihn selig – hat gar nicht so übertrieben, wie man meinen könnte. Österreich ist ein kulinarisch durchaus ergiebiges Land. Wiener Schnitzel, Sachertorte, Palatschinken, Tafelspitz, Kaiserschmarrn, Salzburger Nockerln, Tiroler Gröstl, Kasnocken, Gugelhupf – diese Liste könnte man noch lange fortsetzen. Doch ich denke, das kann ich mir sparen, die Intention ist klar: Die Alpenrepublik kann mit einer breiten Palette wunderbarer Köstlichkeiten aufwarten.

Ein Gericht hat sich hierzulande allerdings nie richtig durchgesetzt: Menschenfleisch. Der Österreicher neigt nicht unbedingt zum Kannibalismus. Die Österreicherin angeblich auch nicht. Glaubt man den Quellen, so war das Verspeisen der Mitmenschen auch im 16. Jahrhundert bei uns nicht an der Tagesordnung. Und doch beherbergt die Österreichische Nationalbibliothek ein Schriftstück aus jener Zeit, das über ein Gasthaus im niederösterreichischen Weinviertel berichtet, in dem man damals durchaus Menschenfleisch auf dem Teller hat vorfinden können.

„Wie das?“, fragen sich da natürlich die geneigte Leserin und der geneigte Leser.

Nun gut, ich versuche, ein wenig Licht ins Dunkel der Geschichte der österreichischen Humangastronomie zu bringen. Also los.

Es ist ein verregneter Samstagvormittag.

Zwei meiner Söhne, meine siebenjährige Enkeltochter und ich beschließen, der Burg Kreuzenstein einen Besuch abzustatten. Klassisches Familien-Schlechtwetterprogramm eben. So spazieren wir von der Wohnung meines Sohnes im Zentrum Leobendorfs die Burggasse hinauf, um an einer Führung durch die prächtige Schauburg teilzunehmen. In ihrer heutigen Gestalt repräsentiert sie weniger das authentische Mittelalter als die unbestreitbar kauzige Persönlichkeit ihres Bauherrn, des Grafen Johann Nepomuk Wilczek, der im 19. Jahrhundert begann, seine Vorstellung einer mittelalterlichen Wehranlage aus diversen Versatzstücken historischer Gebäude auf den spärlichen Resten der von den Schweden 1645 gesprengten alten Festung Kreuzenstein zu errichten.

Während der Führung erhasche ich einen Blick aus einem der Fenster: Der herbstlich verfärbte Wald erstreckt sich Richtung Ober- und Unterrohrbach. In jenem Rohrwald stand im 16. Jahrhundert laut der schon zuvor erwähnten Flugschrift in der Nationalbibliothek ein von Reisenden gern frequentiertes Gasthaus. Und eben jenes Lokal soll einst Schauplatz ziemlich makabrer kulinarischer Erlebnisse gewesen sein.

 

Besitzer des Gasthauses war damals ein gewisser Greger Rühel. Da seine Herberge sehr günstig lag, nämlich an der Straße zwischen Prag und Wien, machte er guten Umsatz. Trotzdem, als gewiefter Geschäftsmann war es ihm natürlich ein Anliegen, seinen Gewinn zu optimieren. Das tat er auf eine selbst für das 16. Jahrhundert durchaus ausgefallene Weise.

An die Öffentlichkeit kam diese, nachdem das Verschwinden eines am ersten Juni 1583 bei ihm abgestiegenen Adeligen und seiner Diener aufgefallen und den Behörden gemeldet worden war. Diesen konnte man nicht unbedingt vorwerfen, vorschnell zu handeln, da Rühel erst über zwei Wochen später festgenommen wurde. Vielleicht jedoch wurde in diesen zwei Wochen ohne Befragung des Angeklagten ermittelt, ob an dem Verschwinden des Edelmannes und seines Gefolges etwas dran sein könnte. Wer weiß? Wie auch immer: Den Grundsatz „Im Zweifelsfalle für den Angeklagten“ gab es nach damaliger juristischer Auffassung eher nicht, also wurde Greger Rühel zur „peinlichen Befragung“ auf die Burg Kreuzenstein gebracht. Auch wenn dieser Ausdruck „peinliche Befragung“ heute eher harmlos klingen mag, war damit nichts anderes gemeint als die Erpressung eines Schuldgeständnisses mit Hilfe von Folter. Es erscheint uns Heutigen vielleicht ein wenig skurril, nein, eigentlich sehr skurril, dass man damals zwar für ein Verbrechen nur dann bestraft werden durfte, wenn man es gestanden hatte, die Umstände für die Erlangung eines solchen Geständnisses allerdings nicht gerade die, hm, dezentesten waren. In den Folterkammern diverser Burgen kann man bis heute die damals verwendeten Gerätschaften bewundern und sich ihre Anwendung detailreich erklären lassen. Greger Rühel erlebte sie im Kerker der Burg Kreuzenstein höchstwahrscheinlich am eigenen Leib.

Nach acht Tagen wusste man, was man wissen wollte. Der Wirt hatte gestanden, eine Mordserie ungeahnten Ausmaßes begangen zu haben: gezählte 185 Personen habe er in seinem Gasthaus ermordet. Jedes seiner Opfer habe er durch drei Räume geführt. Im vierten habe er es in einen etliche Klafter tiefen Schacht gestoßen. Ein Klafter sind übrigens etwa 1,80 Meter. Es muss also ein wirklich tiefer Schacht gewesen sein. Wenn die Opfer beim Sturz nicht sofort gestorben seien, habe er Schießpulver auf sie geleert und dieses entzündet. Waren sie dann endgültig tot, habe er die Leichname aus dem Schacht geholt, ausgeraubt, zerstückelt – und ausgelöst. Wenn möglich habe er sie den nächsten Gästen mit dem Hinweis serviert, es sei Fleisch von jungen Schweinen.

Der letzte Wille des geschäftstüchtigen Greger Rühel war, dass man noch vor seiner Hinrichtung seine Güter schätzen und ihm ihren Wert berichten möge – was auch geschah. Mit jener Summe im schwarzen Kapitalistenherz starb es sich gleich viel leichter. Oder auch nicht. Immerhin war dem Serienmörder kein schneller Tod zugedacht worden.

Eine Woche lang trennte man ihm jeden Tag einen Körperteil ab. Am achten Tag setzte man den so Verstümmelten auf den Arme-Sünder-Wagen, wo man ihm mit glühenden Zangen Fleisch vom Körper riss. Das, was von Greger Rühel noch übrig war, wurde – wie damals üblich öffentlich – gepfählt. Als dann das Spektakel vorbei war und sich die Schaulustigen auf den Heimweg machten, setzte ein gewaltiger Sturm ein, durch den nicht nur die Menschen umgeworfen und zum Teil verletzt wurden, sondern auch der Pfahl mit dem Leichnam Greger Rühels fortgerissen wurde und (trotz der zahlreichen Augenzeugen unauffindbar) verschwand. Erst als der Henker drei Tage später wieder an die Richtstätte kam, fand er dort den Pfahl inklusive der Leiche des Delinquenten an der ursprünglichen Stelle wieder. Greger Rühels Genick jedoch war gebrochen, sein Gesicht auf den Rücken gedreht.

Während ich noch aus dem Fenster auf das farbenfrohe Blätterdach des Rohrwalds blicke, in dem vor etwas mehr als 400 Jahren das Wirtshaus des Greger Rühel gestanden haben mag, denke ich über die Glaubwürdigkeit der Geschichte nach, die auf jenem Einblattdruck aus dem Jahr 1583 zu lesen ist. Nicht alles darin klingt plausibel, manches könnte übertrieben, anderes vollkommen erfunden sein. Ähnlich wie die Ausführungen der jungen Frau, die uns durch die Räume der Burg Kreuzenstein führt. Geschichte und Geschichten verschwimmen oft ineinander. Und dass die Erzählung vom mörderischen Wirt, dessen Geldgier ihn zum Raubmörder in großem Stil werden lässt, der sogar Ahnungslose zu kannibalistischen Mahlzeiten nötigt, sich als moralisches Lehrstück perfekt eignet, liegt auf der Hand. Das merkwürdig übernatürlich anmutende Ende wirkt auch ein wenig zu perfekt: Sowohl der Sturm als auch der verdrehte Kopf der Leiche sind in der damaligen Glaubenswelt der Menschen unschwer zu erkennende Hinweise darauf, dass Greger Rühels Seele vom Teufel geholt worden ist. Seine Leiden gehen somit in alle Ewigkeit weiter. Die Lehre: Skrupellos Reichtümer zu scheffeln, führt direkt in die Folterkammern der Gerichtsbarkeit, auf die nächste Hinrichtungsstätte und anschließend in die Flammen der Hölle.

Ob jedoch ein tatsächlicher Kriminalfall als Grundlage für jenes moralisierende Lehrstück gedient hat, kann ich nicht ausschließen. Falls jemand also bei einem nächtlichen Spaziergang in den Wäldern um die Burg Kreuzenstein dem blutüberströmten, verstümmelten Geist Greger Rühels begegnet, dessen Gesicht zurück auf seine abscheulichen Untaten blickt, der möge diesen bitte fotografieren, eventuell zu den damaligen Geschehnissen interviewen und mir die Ergebnisse zukommen lassen.

Danke im Voraus.