An einem eisig-nebligen Samstag igelt man sich am besten neben einem gemütlich prasselnden Feuer und mit einem warmen Getränk in Händen gemütlich zu Hause ein. Oder aber man setzt sich ins Auto und stattet einem Ort einen Besuch ab, dessen bewegte Geschichte einen neugierig gemacht hat. Die zweite Möglichkeit liegt mir eher. Von wegen "unrastig Neugieriger" und so.
Das Ziel jener Jännerreise hieß Greillenstein. Das ist ein Schloss, kein Ort. Das Dorf, in dem es zu finden ist, heißt Röhrenbach und liegt im Bezirk Horn. Soweit die Fakten. Zeit, der Fiktion Raum zu geben.
Schon die Anreise war äußerst stimmungsvoll: Nebel hüllte die Landschaft ein, die Farben wurden fahl. Eis bedeckte die Felder, die Wiesen, die Bäume und so manche alte Steinplastik am Wegrand.
Schloss Greillenstein ist ein Renaissancebau. Etwas, das in Österreich ohnehin nicht allzu häufig ist. In manchen Gegenden - vor allem nördlich der Alpen - glitt man architektonisch quasi
übergangslos von der Gotik ins Barock. Bösen Gerüchten zufolge verdankt das Waldviertel jenen Bau ohnehin nur dem Umstand, dass seinerzeit ein italienischer Architekt mit dem
Abriss und Neubau der mittelalterlichen Festung Greillenstein beauftragt worden war. Zwar wurde auch das Renaissanceschloss im Nachhinein barock gepimpt, aber nur in Details. Der trutzige
Charakter blieb unangetastet.
Dieser wurde auch deutlich, als ich am frühen Nachmittag mit meinem Auto auf den leeren Besucherparkplatz rollte. Vor mir lag ein verwunschen wirkendes Märchenschloss - versperrt, eisbedeckt,
jännernebelumweht. Nur Dornröschen und die unüberwindbare Hecke fehlten. Die Anlage ist in den Wintermonaten geschlossen, besichtigen kann man sie lediglich in der wärmeren Jahreszeit. Für mich
kein Problem - ich kam nicht, um eine Führung mitzumachen, sondern um mir einen Eindruck von diesem Ort zu verschaffen. Dazu genügte ein Spaziergang durch die Außenanlagen des
Schlosses.
Obwohl, einen Blick in die Kellergewölbe hätte ich schon gern geworfen.
Wieso? Tja, das hat einen Grund, der hier unbedingt erläutert werden sollte.
Nun denn...
Lassen wir die ältere Geschichte des Schlosses Greillenstein hinter uns und werfen wir einen Blick ins 18. Jahrhundert:
Zu jener Zeit herrschte Johann Ferdinand II. von Kuefstein-Greillenstein auf dem Schloss.
Nicht nur, dass dieser Freimaurer und Logenbruder des Kaisers Franz I. Stephan von Lothringen, also des Gemahls von Maria Theresia, war, die beiden teilten auch ihr Interesse für
Naturwissenschaften. In den Kellergewölben von Schloss Greillenstein richtete Graf Kuefstein ein Labor ein, in dem er naturwissenschaftlichen Experimenten nachging.
Ein Freimaurer, der in dunklen Schlossgewölben Experimente durchführte, die wohl nicht einmal der Dorfpfarrer schlüssig zu erklären im Stande war? Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.
Zauberei und Unnatürliches geschahen wohl dort unten. Vorgänge, die der Bevölkerung über kurz oder lang unheimlich erscheinen mussten. Parallelen zum aktuell wieder aufflammenden Misstrauen in
die Wissenschaft drängen sich geradezu auf. Auf der Basis von erschreckend wenig Wissen häufte sich umso mehr Meinung an und bald war klar: Der Graf arbeitete an gotteslästerlichen, höchst
gefährlichen Versuchen. Irgendwann kam die Gewissheit auf, Johann Ferdinand II. erschaffe Homunculi - künstliche Menschen, nicht aus dem Mutterschoß, sondern aus dem Reagenzglas
geboren. Die Indizien sprachen alle dafür. Denkt doch einmal darüber nach! ;-)
Die Idee, mittels der Wissenschaft Menschen zu erschaffen, war im 18. Jahrhundert bereits alles andere als neu:
Schon in der Antike schrieben Cicero und Plautus vom "Homunculus", also dem "Menschlein". Weiters tauchte das Konzept in der Sage von Pygmalion auf, im frühen Mittelalter in jener vom Golem. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit wandelten sich die Vorstellungen, wie künstliches Leben erschaffen werden könnte. Weniger die Magie war nun das Mittel der Wahl, man schlug bei der Lösung dieses Problems eher eine chemisch-medizinische Richtung ein. Im 13. Jahrhundert bereits soll sich der Arzt Arnaldus von Villanova Gedanken über die alchemistische - heute würde man sagen chemische - Herstellung von künstlichen Menschen gemacht haben.
Exakt beschrieben wird die Erschaffung eines Homunculus im Jahr 1538 von Theophrastus Bombast von Hohenheim, der heute eher unter seinem Rufnamen Paracelsus bekannt ist. Er war ein vielfältig interessierter Mann, ein typischer Renaissancemensch, der sich mit Mystik, Philosophie, Theologie, Alchemie und sozialen Fragen auseinandersetzte. Bekannt wurde er allerdings vorwiegend als Arzt. In seiner Schrift "De natura rerum" ("Von der Natur der Dinge") ist zu lesen, dass man, um einen Homunculus zu erzeugen, menschliche Spermien 40 Tage in warmem Pferdedung aufbewahren müsse. Nach Ablauf dieser Zeit rege sich darin dann eine Art Larve, die „einem Menschen gleich, doch durchsichtig“ sei. Anschließend solle man dieses Wesen 40 Wochen lang bei konstanter Wärme mit Menschenblut ernähren. Daraus werde ein Kind entstehen, jedoch viel kleiner als eines, das auf herkömmlichem Wege gezeugt worden sei.
Auch Johann Ferdinand von Kuefstein experimentierte also ganz, ganz sicher im Keller des Schlosses an der Erschaffung künstlichen Lebens. Und das höchstwahrscheinlich nach der (etwas unappetitlichen) Anleitung des Paracelsus.
Der Diener und Koch des Grafen, ein gewisser Josef Kammerer, notierte in seinem "Verrechnungsbuch" sogar weitere Details zu den Experimenten. So gab er an, dass - ähnlich wie in den alten Überlieferungen - Blut und Sperma die Trägersubstanzen bildeten. Dazu kamen aber noch Leichenteile, die in einem speziellen Verfahren gekocht wurden, bis sich menschliche Gestalten im Dampf zeigten. Dann sei der Herr auf Greillenstein penibel den Anweisungen des Paracelsus gefolgt: Samen, Pferdedung, Wärme, Blut. Alles wie gehabt. Die so entstandenen Homunculi wurden in Flaschen aufbewahrt, die mit Tierhaut verschlossen wurden. Da sie zu Beginn nicht größer als eine Hand waren, wurde ihr Wachstum noch weiter angeregt, indem man sie eine Zeitlang erneut unter Pferdemist begrub, der täglich mit frischem Urin besprengt wurde. Wenn Dünger in der Landwirtschaft funktionierte, warum nicht auch hierbei?
Tatsächlich, der Plan des Grafen Kuefstein ging auf. Sein Diener Josef Kammerer berichtet in seinen Aufzeichnungen von zehn künstlich erschaffenen Wesen: einer Nonne, einem Mönch, einer Königin, einem König, einem Architekt, einem Ritter, einem Bergmann, einem Engel sowie einem roten und einem blauen Geist. Alle waren nur etwa dreißig Zentimeter groß, konnten aber wahrsagen und wurden deshalb gelegentlich zu den Treffen der Freimaurerloge mitgenommen, wo sie ihre hellseherischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen hatten.
Doch bald schon nahm das Unglück seinen Lauf: Eines Tages kippte das Glas, in dem sich der Mönch befand, um und dieser hauchte dramatisch röchelnd auf dem kalten Kellerboden sein Leben aus. Auch das Königspaar verstarb auf dieselbe Weise. Ihr Schöpfer bekam es mit der Angst zu tun und ließ die restlichen Homunculi frei. Sie sind mit Sicherheit für die unerklärlichen Geräusche verantwortlich, von denen auf Schloss Greillenstein bis heute immer wieder berichtet wird.
Seltsam? Aber so steht es geschrieben. (Diesen Schlusssatz kennen wohl nur mehr ältere Semester wie ich.)
Und die Moral von der Geschicht? - Trau alten Protokollen nicht.
Weshalb setzte Josef Kammerer so abstruse Gerüchte über seinen Arbeitgeber in die Welt? Zwei (recht gegensätzliche) Erklärungen halte ich für möglich:
1. Er wollte Aufmerksamkeit durch schauerliche Berichte heischen und sich damit wichtig machen. Dass er durch solche "Enthüllungen" schnell in den Mittelpunkt des dörflichen Interesses rückte, liegt auf der Hand.
2. Das Ziel war, die wissenschaftliche Genialität seines Herrn zu illustrieren, ohne jedoch selbst allzu viel Einblick in die Art der Experimente zu haben. Also musste die Fantasie fehlendes Wissen ersetzen.
Wie auch immer, dass jener Johann Ferdinand von Kuefstein in den Kellergewölben des Schlosses Experimente durchführte, ist durchaus denkbar. Welcher Art diese allerdings genau waren und ob sie tatsächlich mit der Erschaffung künstlichen Lebens zu tun hatten, ist heute nicht mehr restlos zu klären.
Doch das macht nichts, lassen wir der Vergangenheit ruhig auch einmal ein paar ihrer Geheimnisse.
Sich Schloss Greillenstein nämlich als Sitz eines österreichischen Frankensteins vorzustellen, fällt - besonders an solch mystisch-trüb-nebelverhangenen Tagen - ja nicht allzu schwer.