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Requiescat in pace

Der letzte Dienstag des Jahres 2021. Im nördlichen Waldviertel ein stiller, leicht nebeliger Wintertag. Ein Tag, der einlädt, sich an der frischen Luft zu betätigen. Wenn man das auch noch einem bewegungshungrigen Vierbeiner zuliebe und in Begleitung seiner ebenso bewegungshungrigen Zweibeinerin tun kann, hat man quasi kein stichhaltiges Argument, um neben dem Ofen hocken zu bleiben. Also, hoch den Hintern und ab in den Schnee!
Allerdings ist es an diesem Tag bei weitem nicht kalt genug, dass die Gehirnganglien einfrieren, also arbeiten sie (befeuert durch die Aktivität des restlichen Körpers) fröhlich dort weiter, wo sie vor kurzem aufgehört haben:
bei der Lösung einer spannenden Frage, auf die ihr Besitzer - vulgo ich - tags zuvor gestoßen ist.
Wenn man dann auch noch jemanden dabei hat, mit dem man beim Gehen geistig Ping-Pong spielen kann und so die Gedanken weiter an der Lösung jener Frage arbeiten dürfen, ist das umso besser.

Immer häufiger bin ich nämlich in letzter Zeit auf den Umstand gestoßen, dass etwa in sozialen Medien Todesnachrichten von mehr oder minder Prominenten, geliebten Familienmeerschweinchen oder greisen Erbonkeln mit dem Kürzel R.I.P. kommentiert werden.
Das kennt man, das ist man gewohnt, das erwartet man regelrecht. Und die meisten von uns wissen ja auch, was diese Abkürzung bedeutet: "Rest in peace" (für die Anglophilen), "Riposa in pace" (für die Italophilen) oder ursprünglich "Requiescat in pace" (für die Lateinaffinen). Alles bedeutet dasselbe: "Ruhe in Frieden".
Die lateinische Version ist eine Grabinschrift, die bis in das siebente Jahrhundert zurückverfolgt werden kann.

So weit, so unspektakulär.

Bis dahin fand man auf Gräbern beispielsweise die Inschriften "Obiit in pace", "Abiit in somnum pacis", "Depositus est in pace" oder "Quiescit in pace". Ist das nicht alles mehr oder minder dasselbe wie "Requiescat in pace"?
Eigentlich besteht da kein gravierender Unterschied, könnte man meinen.

 

Doch, es gibt einen. Einen deutlichen.

Wenn man diese Grabinschriften übersetzt, wird dieser greifbarer:

"In Frieden gestorben", "Ging in den Schlaf des Friedens", "Wurde in Frieden beerdigt" und "Ruht in Frieden".

Der Unterschied besteht darin, dass es sich bei dabei um Feststellungen handelt - bei "Ruhe in Frieden" allerdings um einen Wunsch. Oder (je nach Betonung) sogar um einen Befehl.

Warum das?

Wohl deshalb, weil man es für notwendig erachtete. Immerhin sind die sogenannten Wiedergänger ein fixes Element des Volksglaubens. Tote, die in durchaus leiblicher Form aus dem Grab kommen, um sich zum Beispiel für erlittenes Unrecht zu rächen, tauchen in Sagen und Märchen auf. Sie erscheinen als Aufhocker, die nächtens Wanderern auf den Rücken springen, um von ihnen getragen, vielleicht sogar erlöst zu werden. Oder sie liegen als Nachzehrer in ihren Gräbern und saugen den Hinterbliebenen durch Kauen am Leichentuch die Kraft aus. Ebenso in diesen Bereich fällt auch der Glaube an Vampire, der besonders im Habsburgerreich des 18. Jahrhunderts eine regelrechte Hochblüte erlebte. Manche Friedhöfe wurden aus diesem Grund beinahe umgegraben, um die vermeintlichen Untoten unschädlich zu machen. Erst Maria Theresia selbst setzte dem ein (vorläufiges) Ende, indem sie ihren Leibarzt Gerhard Van Swieten mit der Untersuchung jener Vorkommnisse beauftragte. Als überzeugter Anhänger der Aufklärung schrieb er ein vernichtendes Urteil über den Glauben an Wiedergänger.
Offenbar vergebens.

Vergebens? Wieso das?

Ganz einfach: In sozialen Medien werden nach wie vor Todesnachrichten von mehr oder minder Prominenten, geliebten Familienmeerschweinchen oder greisen Erbonkeln mit dem Kürzel R.I.P. kommentiert. Ja, ich wiederhole mich.
Allerdings nur, um deutlich zu machen, dass unser Glaubensgebäude heute nicht viel anders konstruiert ist als das der Menschen zu Zeiten Maria Theresias. Auch heutzutage wünschen wir den Toten, dass sie in Frieden ruhen mögen.

Und das, obwohl wir haargenau wissen, dass physikalisch und biologisch gar nichts anderes möglich ist.

Warum also machen wir das?

Glauben wir wirklich an Wiedergänger, Nachzehrer und Vampire?

Ja und nein.
Ich denke, unser Wunsch "Requiescat in pace" bedeutet nichts anderes, als dass wir mit den Verstorbenen abgeschlossen haben, dass uns keine Schuld mit ihnen verbindet, nichts Offenes, nichts Unausgesprochenes, das unsere Seele belastet.
Das könnte nämlich dazu führen, dass wir nicht frei sind von ihnen, dass sie zurückkommen in die Dachkammer unseres schlechten Gewissens, dass sie auf unserem Rücken sitzen und uns noch lange belasten, dass sie uns die Lebenskraft und die Lebensfreude rauben.
Wenn wir also R.I.P. unter eine Todesmeldung schreiben, versuchen wir uns selbst Frieden zu verschaffen.
Die, die Gegangen sind, haben ihn nämlich. Garantiert.