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Knochenarbeit

Wieder einmal weilte der Vajk zwecks Fortbildung in der Landeshauptstadt. Zwar war eine weitere Erhöhung seiner fachlichen Kompetenz bekannterweise kaum möglich, trotzdem versuchte die Pädagogische Hochschule Niederösterreichs eben das beharrlich.

Wie auch immer - nach einem langen Tag des Schulbankdrückens wollten die bis dahin etwas unterforderten Sportlerbeine vertreten werden.

 

Da es ein wunderschöner, verhältnismäßig lauer Novemberabend war, schlenderte der Autor dieser Zeilen durch die Altstadt Sankt Pöltens. Der bernsteinfarbene Abend hatte Ruhe in die Gassen gebracht, die Menschen bewegten sich deutlich entspannter als noch wenige Stunden zuvor und ich (ja, ich beherrsche auch die erste Person Singular) genoss die Romantik enger Gässchen, hallender Schritte auf Kopfsteinpflaster und flüchtiger Schatten im Augenwinkel.

 

Je weiter ich dem Straßenlärm vor dem Bahnhof entkam, desto mehr atmete ich die Geschichten, die aus den bunten Mauern strömten, die Vergangenheit dieser kleinen, aber sehr alten Stadt.

Nachdem ich in ein Telefonat vertieft um eine Hausecke gebogen war, stand ich unvermittelt am Rande eines weiten Platzes. Genauer eines Parkplatzes. Noch genauer des Domplatzes.

Bei diesem Namen klingelte es - zumindest in übertragenem Sinne - bei mir. In welchem Zusammenhang hatte ich bloß schon von diesem Platz gehört?

Merkwürdigerweise half die Anordnung der Wagen vor mir meinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge:
War es nicht an dieser Stelle gewesen, dass vor einigen Jahren ein archäologischer Sensationsfund der Presse Anlass für zahlreiche Artikel geliefert hatte? Ja, ich begann, mich wieder zu erinnern:
Seit dem Jahr 2010 war hier intensiv geforscht worden. Ich hatte zum Beispiel noch folgende Luftaufnahme von den archäologischen Grabungen vor meinem inneren Auge:

Foto: Stadtmuseum St. Pölten
Foto: Stadtmuseum St. Pölten

Damals wurden ein  Badehaus, ein großer Repräsentationssaal sowie ein Verwaltungsgebäude und ein Wohntrakt aus dem vierten Jahrhundert entdeckt. Man vermutete, dass es sich dabei um den Sitz des Statthalters gehandelt haben dürfte. Auch eine der ältesten christlichen Kirchen Niederösterreichs kam zum Vorschein. Ja, im Spätmittelalter standen insgesamt vier große Kirchen im Bereich dieses Platzes.

 

Doch das war noch nicht alles. Die größte Sensation war die Entdeckung von genau 22134 Skeletten unter der Oberfläche des Sankt Pöltener Domplatzes. Zum Vergleich: Das entspricht einem gut gefüllten Fußballstadion. Vom neunten bis ins achtzehnte Jahrhundert waren hier auf einem riesigen Friedhof die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt bestattet worden.

Ein Wissenschaftlerteam hatte hier ein Jahrzehnt lang wahre Knochenarbeit geleistet: Durchschnittlich waren von den Archäologinnen und Archäologen wöchentlich mehr als 50 Skelette geborgen worden. Alle waren von einem Anthropologenteam vermessen worden, das Alter und das Geschlecht der Toten war bestimmt sowie etwaige Auffälligkeiten dokumentiert worden. Dadurch konnten mittlerweile bereits einige Fragen zu den Lebensumständen im Sankt Pölten der vergangenen tausend Jahre beantwortet werden.

Foto: st-poelten.at
Foto: st-poelten.at

Doch der Parkplatz, der sich da so friedlich vor mir ausbreitete, diese Decke, die wieder sorgsam über die mittlerweile verlassene Ruhestätte von über 22000 Menschen gezogen worden war, stellte - wie ich bei näherer Betrachtung erkennen konnte -  noch nicht das Ende der Platzgestaltung dar. Erst 2022 soll die Neugestaltung der Fläche abgeschlossen sein.

 

Die Erforschung der Funde hingegen wird die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch lange beschäftigen. Immerhin sind auf dem Gelände in den zehn Ausgrabungsjahren gezählte 975 Bananenkartons mit Funden angefallen - und zwar ohne die menschlichen Knochen mitzurechnen. 2985 Münzen hat man unter der Oberfläche des Domplatzes gefunden. 400000 Fotos haben die Forscherinnen und Forscher vom dem Gelände gemacht.

 

Nachdenklich ließ ich meinen Blick über den Bernsteinasphalt des stillen Parkplatzes wandern: Was mochte wohl noch alles unter meinen Füßen verborgen sein, wenn ich gleich zurück in mein Quartier wanderte? Wie viel Ahnung hatten die feierabendtrunkenen Frauen und Männer, die mir entgegenkamen, dass ihre Schritte sie über die Zeugnisse der Leben vergangener Generationen führten?

 

 

Unwillkürlich kam mir ein Bild von Anton Lehmden, einem Maler der Wiener Schule des Phantastischen Realismus, den ich in jungen Jahren auf der Kunstakademie persönlich kennenlernen hatte dürfen, in den Sinn:

Quelle: antonlehmden.at
Quelle: antonlehmden.at

Ich beschloss, das Leben zu feiern und noch in ein Lokal zu gehen, das Guinness vom Fass ausschenkte.

Ganz egal, was unter mir sein mochte. Irgendwann würde ich dem ohnehin Gesellschaft leisten.

Aber noch nicht an diesem Abend.

Sláinte!