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Vampirjäger Ihrer Majestät

Es ist ein regnerischer Wiener Sommernachmittag. Aufgrund des äußerst durchwachsenen Wetters haben sich die Touristen unter Dach verzogen. Sie drängen sich in den Museen, den Kirchen, den Restaurants der Stadt. Wien gehört ein paar wenigen Hartgesottenen wie mir. Bewaffnet mit Regenschirmen oder -jacken, Baseballkappen tief in die Stirn gezogen, stapfen sie durch die Straßen. Ich hingegen stehe zwischen dem Kunst- und dem Naturhistorischen Museum vor dem Denkmal der Landesmutter Maria Theresia. Meistens wird sie mit dem Titel Kaiserin bedacht. Genaugenommen war sie das nicht. Sie war die Frau des Kaisers. Dieser jedoch, ihr Mann Franz Stephan von Lothringen, hatte weniger Interesse an Politik als sie. Er kümmerte sich vor allem um die finanzielle Absicherung der kaiserlichen Familie und um wissenschaftliche Belange – und das innovativ, kreativ und aufgeschlossen. Er scheute sich nicht, kluge Köpfe an den Hof zu holen und in die Angelegenheiten des Staates als Berater einzubinden. Manche von ihnen stehen in Statuenform zu Füßen des Denkmals der über allem thronenden Maria Theresia. Gerade stehe ich vor der Plastik von Gerhard von Swieten, dem Leibarzt der Herrscherfamilie und so etwas wie Wissenschaftsminister des Reiches. einem untersetzten Mann mit Doppelkinn, Rokoko-Perücke und weitem Mantel, der – ein Buch in der Linken – offenbar gerade damit beschäftigt ist, einer unsichtbaren Zuhörerschaft die Welt zu erklären. Doch dieses Buch ist mehr als ein Accessoire: Offensichtlich hat er noch kurz zuvor etwas darin nachgeschlagen. Sein Zeigefinger steckt noch zwischen den Seiten, ganz so als müsse er es jeden Moment wieder öffnen und seine Worte durch eine Textpassage untermauern. Eine kleine, eine unscheinbare Geste, die allerdings viel über die Persönlichkeit des Dargestellten aussagt. Eine Persönlichkeit, die stark genug war, sich gegen etwas zu stellen, das im 18. Jahrhundert fest in den Köpfen und Herzen der Menschen verankert war: Furcht vor dem Übernatürlichen.

Quelle: Wikipedia
Quelle: Wikipedia

Gerard van Swieten – oder eben eingedeutscht Gerhard von Swieten – war ein niederländischer Mediziner, der selbst aus einer alten Adelsfamilie stammte. Da ihm eine Professur an der Universität seiner Heimatstadt Leiden aus konfessionellen Gründen verwehrt war, nutzte er die Gelegenheit, im fernen Wien Karriere zu machen. Er genoss als Leibarzt das uneingeschränkte Vertrauen des Kaiserpaars und wurde aufgrund dessen mit verschiedenen Wissenschafts- und Bildungsreformen betraut. Er initiierte eine Umgestaltung des österreichischen Gesundheitswesens und der medizinischen Hochschulausbildung sowie zahlreiche innovative naturwissenschaftliche Projekte. Van Swieten war der Prototyp des Aufklärers, ein Skeptiker, jemand, der wissenschaftliches Denken als unumgänglich für eine zivilisierte Gesellschaft erachtete.

In den Augen Maria Theresias zumindest war er der richtige Mann, um ein Problem zu lösen, das im Kaiserreich immer wieder für Unruhe sorgte.

 

In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrten sich nämlich schlagartig die Berichte von Vampirismus im Osten des Habsburgerreichs. Zeitweilig brach eine wahre Vampirhysterie aus und Geschichten von Grabschändungen, Leichenverstümmelungen und posthumen Verbrennungen erreichten Mitte jenes Jahrhunderts den Wiener Hof. Selbst Geistliche und Beamte in den Provinzen waren in die Vorkommnisse verwickelt. Vor allem deshalb war Maria Theresia von den Berichten so beunruhigt, dass sie eine Kommission ihrer besten Gelehrten unter der Leitung Gerhard Van Swietens mit der Klärung der Sache beauftragte. Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen und erklären, was man im 18. Jahrhundert unter Vampirismus verstand. Van Swieten schreibt dazu:

„Der Aberglauben vom Vampyrismus wird lateinisch Magia Posthuma, oder Zauberey der Abgestorbenen, genennet. Die Vampyren aber sind verstorbene Menschen, welche zuweilen später, zuweilen eher aus dem Grabe aufstehen, den Menschen erscheinen, das Blut aussaugen, an die Hausthüren ungestümm anklopfen, Getöse im Hause erwecken, und öfters gar den Tod verursachen sollen.“

 

Diese Überzeugung führte dazu, dass bei unbekannten Krankheiten oder bei Angstzuständen von Dorfbewohnern ein (oftmals zu Lebzeiten nicht sehr beliebter) Verstorbener bezichtigt wurde, ein Vampir zu sein und die genannten Vorfälle zu verursachen. Der betreffende Leichnam wurde dann exhumiert und auf bestimmte Zeichen kontrolliert. Am wichtigsten war, dass der Körper auffällig wenig verwest war. Manche jener angeblichen Vampire wirkten richtiggehend gesund, frisch, geradezu verjüngt. Aus dem Mund, aber auch anderen Körperöffnungen rann Blut. Ganz sicher ein mehr als unheimlicher Anblick für die bäuerliche Bevölkerung, in deren Alltag sowohl Volksfrömmigkeit als auch Aberglaube nicht unwesentliche Rollen spielten.

Wenn also eine Leiche so gut erhalten war, dass die Dorfbewohner Übernatürliches vermuteten, wurde sie – in der Regel von den nächsten Angehörigen, die man dazu zwang – zum Scharfrichter gebracht. Dieser trieb ihr einen Holzpflock durchs Herz, dann wurde sie geköpft und anschließend verbrannt. In der Glaubensvorstellung der Menschen war dies allerdings eine bei weitem drastischere Strafe, als man das auf den ersten Blick annehmen könnte. Immerhin gingen die Christen damals von einer wortwörtlich körperlichen Auferstehung am Tag des Jüngsten Gerichts aus. Das ewige Leben wurde somit durch die Verbrennung der Leichen für die Verstorbenen unerreichbar. Eine Auslöschung für immer. Keine Wiedervereinigung mit den anderen Familienmitgliedern. Keine Existenz im Reich Gottes.

Doch nicht nur das. Da man davon ausging, dass alle Opfer des mutmaßlichen Vampirs ebenso Wiedergänger waren, wurden diese oft auch exhumiert und nach denselben Anzeichen untersucht. Alle diese später begrabenen Leichen waren – logischerweise – oftmals in mindestens ähnlich gutem Zustand. So kam es nicht selten zu richtigen „Vampirmassenmorden“, bei denen halbe Friedhöfe umgegraben wurden. Manchmal ging das so weit, dass Leute, die fürchteten, nach ihrem Tod angeklagt zu werden, lieber gleich in andere Dörfer auswanderten, solange sie dazu noch in der Lage waren.

Mehr und mehr griff die kollektive Furcht der Landbevölkerung vor der „Vampirseuche“ um sich, sodass bald auch (wie bereits erwähnt) politischer Handlungsbedarf bestand.

 

Van Swieten identifizierte als Leiter der eingesetzten Untersuchungskommission schnell die unvollkommene Verwesung als jenes Kriterium, das alle vermeintlichen Vampire gemeinsam hatten. Dann machte er sich an die wissenschaftliche Untersuchung jenes Phänomens. Nicht zuletzt sein Chemiestudium, das er neben Medizin und Pharmazie in seiner Heimatstadt Leiden betrieben hatte, dürfte Basis dafür gewesen sein, dass er eine durchaus natürliche Erklärung für die mangelnde Verwesung der Leichen fand. So folgerte er – übrigens gut 20 Jahre vor der Entdeckung des Sauerstoffs –, dass solche Phänomene immer dann auftraten, wenn die Toten unter besonders starkem Luftabschluss bestattet worden waren. Neben der Verhinderung der Verwesung in Abwesenheit von Sauerstoff kam es in den nahezu luftdichten Gräbern zu Gärvorgängen, die die Körper aufblähten und damit für ein auf den ersten Blick verjüngtes und vor allem äußerst wohlgenährtes Äußeres sorgten. Zusätzlich dazu drückten diese Prozesse auch Flüssigkeiten aus den Körperöffnungen.

Dass Dorfbewohner, Priester und Beamte mangels Einblicks in die damals neueste Forschung der organischen Chemie andere Schlüsse zogen, liegt auf der Hand.

Doch wer hatte Recht? Das gesunde Volksempfinden, unterstützt durch die Person des Dorfpfarrers, den man kannte, zu dem man aufschaute und den man als Experten in Fragen des Übernatürlichen hinzuzuziehen gewohnt war? Oder ein im Dorf unbekannter, nobel gekleideter Abgesandter aus dem fernen Wien, der von Vorgängen sprach, die man nicht nachvollziehen konnte?

Van Swieten hatte ein Problem. Ein Problem mit seiner Glaubwürdigkeit.

Doch der Leibarzt der kaiserlichen Familie war nicht nur ein scharf denkender Naturwissenschaftler, sondern auch ein Mann mit Sinn für Rhetorik. Er konterte die Angriffe auf seine Theorien damit, dass er die Gedankengebäude seiner Gegner als unlogisch demaskierte. Immerhin gab es auch Fälle von Funden gut erhaltener Leichen, in deren Umgebung es zu keinerlei unerklärlichen Vorkommnissen gekommen war. Sollte es sich es sich bei ihnen etwa um arbeitsscheue Vampire gehandelt haben? Insbesondere den Fall eines perfekt erhaltenen Engländers führte er an:

"Durch das Pfarrprotocoll wurde erwiesen, daß seit dem Jahre 1669 kein Mensch in diese Begräbniß gebracht worden. Hier haben wir also einen englischen Vampyre, welcher über 80 Jahre in seinem Grabe ruhig geblieben ist, und keinen Menschen belästiget hat."

Nach dem Abschluss seiner Untersuchungen verfasste Van Swieten einen nüchternen Bericht, der unter dem Titel „Abhandlung des Daseyns der Gespenster“ veröffentlicht wurde und bei dem er die genannten natürlichen Ursachen als Erklärung für den Vampirglauben heranzog.

Mit seinem Abschlussbericht erreichte er, dass Vampirprozesse in allen Ländern des Habsburgerreiches gesetzlich verboten wurden. Damit wurde auch eine extreme Form der sozialen Stigmatisierung beendet, da die Verbrennung des Körpers (wie bereits erwähnt) im damaligen christlichen Denken eine Auferstehung und damit den Weg ins Paradies unmöglich machte. Das war ja nicht nur für den Verstorbenen furchtbar, sondern auch für dessen Hinterbliebene. Diese waren im Dorf für alle anderen die Familie, die einen Vampir hervorgebracht hatte.

Die Annahme von Vernunft auf höchsten Befehl.

Von © Hubertl / Wikimedia Commons
Von © Hubertl / Wikimedia Commons

Der Regen hat deutlich nachgelassen. Vorsichtig lugt die Sonne zwischen grauen Wolkenfetzen hervor und lässt sich von einem kleinen Stück blauen Himmels über die Schulter schauen.

Noch immer stehe ich vor der Plastik Gerhard van Swietens. Nach wie vor hält er sein Buch griffbereit, so als müsse er jeden Moment die Diskussion mit seinen Gegnern aufnehmen. In der Vorrede seines Berichtes zu den Vampirvorfällen schrieb er 1768, „daß der ganze Lärm von nichts andern herkömme, als von einer eitlen Furcht, von einer aberglaubischen Leichtglaubigkeit, von einer dunklen und bewegten Phantasey, Einfalt und Unwissenheit bei jenem Volke.“

Wenn jener Mann heutzutage lebte, heutzutage studiert hätte, heutzutage wissenschaftlich arbeitete, welche Worte fände er im Angesicht von Corona-Verharmlosern, Verschwörungserzählern oder Impfgegnern? Würde er vor der Lautstärke der Absolventen der YouTube-University kapitulieren? Wie viele Shitstorms müsste er täglich in den sozialen Netzwerken über sich ergehen lassen? Könnte er – ohne eine absolut regierende Maria Theresia als Rückendeckung – überhaupt etwas gegen die ungebildeten Massen bewirken?

Müßige Überlegungen – aber durchaus interessante.