Sichtlich unsichtbar

"Abschalten vom Alltag und mit der gesamten Familie die Natur und Entspannung oder Spaß und Action genießen. Der Salzburger Lungau - dessen 15 malerische Orte durchschnittlich auf 1.000 Metern Seehöhe und mehr liegen - ist nicht nur eine der sonnenreichsten Regionen Österreichs, sondern seit 2012 auch UNESCO Biosphärenpark. Diese Auszeichnung garantiert allen Lungau-Gästen unverfälschte Urlaubserlebnisse in der idyllischen Naturlandschaft."

 

Mit diesen Worten wird aktuell eine Landschaft beworben, die noch im 17. Jahrhundert durch ganz andere Besonderheiten auf sich aufmerksam gemacht hat. Damals war der Lungau Schauplatz eines gigantischen Hexenprozesses: 232 Menschen wurden wegen Zauberei angeklagt, die ältesten waren Greise, die jüngsten im Alter heutiger Kindergartenkinder. 167 von ihnen wurden nach Anwendung der Folter, die in solchen Fällen natürlicher Bestandteil des Prozesses war, hingerichtet, wobei die jüngsten Delinquenten erst etwa zehn Jahre zählten. Doch wie konnte ein solcher Wahnsinn überhaupt geschehen? Was war all dem vorausgegangen? Werfen wir, um das zu verstehen, vorab einen kurzen Blick auf die Geschichte der Hexenverfolgung in Österreich.

Die Hexenverfolgung war mitnichten ein Wahn des tiefsten und dunkelsten Mittelalters. Noch im zehnten und elften Jahrhundert erachtete die Kirche Zauberei und Hexerei als heidnischen Aberglauben. Im „Canon Episcopi“ aus dem Jahr 906 wurde ausschließlich Gott die Fähigkeit zugeschrieben, Lebewesen zu verwandeln, und die Existenz von Hexen wurde dezidiert geleugnet. Noch im Jahr 1080 verbot Papst Gregor VII. ausdrücklich die Tötung vermeintlicher Hexen.

Dann jedoch kam die Zeit der Inquisition und diese Haltung der Kirche gegenüber der Hexerei änderte sich nach und nach. Am 5. Dezember 1484, also etwa zu der Zeit, die von Historikern als Beginn der Neuzeit angesehen wird, wurde die sogenannte „Hexenbulle“ von Papst Innozenz VIII. veröffentlicht. Diese Schrift markierte zwar nicht den Beginn der Hexenverfolgung in Europa, aber sie bekam nun durch die offizielle Beglaubigung durch das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche eine völlig neue Dimension. Sozusagen das „Praxishandbuch“ dazu war der Hexenhammer (auf Latein Malleus Maleficarum). Er enthielt die einst weit verbreitete Ansichten über Hexen und Zauberer. Diese wurden übersichtlich präsentiert und mit einer nach damaligem Dafürhalten wissenschaftlichen Argumentation begründet. Heinrich Kramer (auf Latein Henricus Institoris), Domprediger und Lehrer der Theologie in Salzburg, war wohl der Hauptautor. Sein Coautor Jakob Sprenger galt in Kirchenkreisen als hoch angesehene Größe. Er wirkte als Inquisitor in Mainz, Trier, Köln, Salzburg und Bremen. Deshalb existiert auch die Theorie, dass sich Kramer den berühmten Kollegen nur aus Publicitygründen ins Boot geholt hat, um sein Werk besser zu verkaufen. Der Hexenhammer wurde in der zweiten Hälfte der 1480er Jahre veröffentlicht und erschien bis ins 17. Jahrhundert hinein in letzten Endes 29 Auflagen, das waren zirka 30 000 Exemplare. Ein absoluter Bestseller der frühen Neuzeit! Doch eigentlich stimmt das nicht ganz: Selbst heute kann man ihn nämlich noch problemlos in jeder Buchhandlung erwerben, es gibt moderne Nachdrucke. Der gepflegten Hexenjagd in der Nachbarschaft steht also nichts im Wege.
Doch was geschah damals im Lungau?

Alles begann mit der Ergreifung einer gewissen Barbara Koller. Sie war Abdeckerin und damit Angehörige einer sozial geächteten Gruppe. Jene Abdecker, auch Schinder genannt, waren für die Tierkadaververwertung zuständig. Wie zu dieser Zeit üblich wurde Barbara Koller in Anspielung auf ihren Beruf „Schinder-Bärbel“ genannt. Ihr Sohn Jakob Koller war dementsprechend der „Schinder-Jackl“. Im Jahr 1675 wurde sie nach einem Opferstockdiebstahl in Golling an der Salzach gefasst. So einen gotteslästerlichen Frevel konnte natürlich nur eine vom Teufel verleitete Hexe begehen.

Unter der Folter gestand sie nicht nur, selbst eine Hexe zu sein, sondern sie gab auch an, dass ihr damals 20-jähriger Sohn Jakob ein Zauberer sei, der ihr bei zahlreichen Kirchendiebstählen geholfen habe. Man kann sich vorstellen, welche Schmerzen die Mutter dazu brachten, anzugeben, dass die beiden wiederholt Schadzauber ausgesprochen hätten, um sich an Bauern zu rächen, die sich ihnen gegenüber nicht freundlich verhalten hätten.

Nachdem man alles erfahren hatte, was man hören wollte, richtete man die vermeintliche Hexe – oder das, was von ihr noch übrig war – in Salzburg hin.

Somit war der Schinder-Jackl nicht nur zum Vollwaisen, sondern auch zu einem der meistgesuchten Menschen des Landes geworden. Ein flüchtiger Zauberer, der mit Sicherheit nichts anderes als Rache im Sinn hätte, war in den Augen der Obrigkeit und der Bevölkerung eine immense Gefahr für das Allgemeinwohl. Seine Flucht in die Wälder und Berge löste, befeuert von Massenhysterie und Aberglauben, eine der grausamsten Hexenverfolgungen im Alpenraum aus.

Rache jedoch dürfte nicht das große Ziel des Jakob Koller gewesen sein, eher das nackte Überleben. Er war nun ein gesuchter Verbrecher, den nichts anderes als Folter und Todesstrafe erwartete, sollte man ihn fassen. Als Abdecker zu arbeiten, war ihm also schlagartig unmöglich geworden.

Und er war nicht allein. Die Armut der Landbevölkerung war groß. Wie heute auch waren es die Kinder und Jugendlichen, die am meisten darunter zu leiden hatten. Nicht wenige Minderjährige wanderten auf sich allein gestellt von Dorf zu Dorf, angewiesen auf Almosen. Sie bettelten, sie stahlen, sie versuchten zu überleben. Um sich gegenseitig Schutz zu bieten und erfolgreicher agieren zu können, schlossen sie sich immer wieder zu Banden zusammen. Heute würde man wahrscheinlich das coolere Wort „Gang“ verwenden.

Ein intelligenter, gewitzter Anführer kam da natürlich gerade recht. Und genau so einer dürfte Jakob Koller gewesen sein. Seine Fähigkeit, für die Behörden nicht greifbar zu bleiben, brachte ihm bald den Ruf ein, sich tatsächlich unsichtbar machen zu können. Und wie es so ist, wurden die wundersamen Berichte um seine Person immer übersteigerter. Als nächstes wurde ihm nachgesagt, Wolfsgestalt annehmen zu können. Das war nicht außergewöhnlich: Zauberer waren nach damaligen Vorstellungen meist auch Werwölfe. Business as usual. Skurriler waren da schon andere Kunststückchen, die ihm angedichtet wurden – zum Beispiel, dass er aus Holz Späne schnitt, die sich sofort in Mäuse verwandelten, weshalb man ihm auch den Spitznamen ‚Mäusemacher‘ gab.

Die Bettelkinder, die sich um ihn geschart hatten, soll er in schwarzer Magie unterrichtet und damit auch zu Hexern gemacht haben.

So mutierte sein Name von „Schinder-Jackl“ zu „Zauberer-Jackl“. Aus dem kleinkriminellen Anführer einer Bande von Straßenkindern war eine Sagengestalt geworden.

Umso intensiver suchte man natürlich nach dem Zauberer-Jackl und seiner Anhängerschaft – und wurde auch immer wieder fündig. Vor allem deswegen, weil es keine große Kunst oder gar Heldentat war, Bettler festzunehmen, vor allem, wenn es sich um Kinder oder Greise handelte.

In den sogenannten „Hexentürmen“ von Schloss Moosham und Salzburg wurden die Gefangenen in hängenden Kupferkesseln gefangen gehalten. Hätten sie nämlich den Boden berühren können, hätte ihnen schließlich der Teufel neue Kraft gegeben. In der Gerichtsstube des Mooshamer Schlosses verhörte man die Verdächtigen und in der gegenüberliegenden Folterkammer unterzog man sie der „peinlichen Befragung“. Die Gefolterten gestanden, vom Zauberer-Jackl gelernt zu haben, wie man sich in einen Wolf verwandelt, wie man Unwetter heraufbeschwört oder mit einem Besen aufs Speiereck zum Hexensabbat reitet. Wer trotz Folter der Zauberei nicht abschwor, wurde auf dem Passeggen bei Maria Pfarr an einen Pfahl gebunden und lebendigen Leibes verbrannt, Bekehrte allerdings erdrosselte man, bevor man das Holz unter ihnen entzündete. Der Großteil der in Salzburg Verurteilten starb vergleichsweise human durch das Fallbeil. 

Nur der Zauberer-Jackl, der blieb nach wie vor unauffindbar.

Aus heutiger Sicht betrachtet ist naheliegend, dass man versuchte, mit dieser wortwörtlichen Hexenjagd das Bettler- und Obdachlosenproblem auf legale (wenn auch sehr radikale) Art und Weise in den Griff zu bekommen. Diverse Projekte wie Hilfe zur Selbsthilfe, geförderte Berufsausbildung, Sozialwohnungen oder Ähnliches waren damals noch kein Thema. Abschreckung und Bestrafung schienen die probateren Mittel zu sein. Sie waren gesetzlich verankert und in der Lebenswelt der damaligen Menschen logisch und sinnvoll.

In der Hoffnung, die Torturen abkürzen oder vielleicht sogar vermeiden zu können, gestanden die Menschen natürlich alles, was man ihnen in den Mund legte, oftmals vorbeugend gleich noch mehr. Vor allem aber nannten sie auch die Namen anderer angeblicher Hexen und Zauberer, sodass man sich damals wohl schneller vor Gericht und in der Folterkammer wiederfand, als man für möglich hielt. Dass die Wahrheit von Aussagen so vollkommen auf der Strecke blieb, ist heutzutage jedem vernünftig denkenden Menschen klar. Andererseits meinte der damalige US-Präsident Donald Trump noch im Jahre 2017 in einem Fernsehinterview im Brustton der Überzeugung: "Folter funktioniert. Absolut!" Man sollte also doch vielleicht vorsichtig sein, sich über die damalige, ach so barbarische Justiz zu mokieren.

Schloss Moosham (Quelle: Wikipedia)
Schloss Moosham (Quelle: Wikipedia)

Doch halt! Habe ich jetzt den Zauberer-Jackl aus den Augen verloren? Ja und nein. Der Hauptangeklagte Jakob Koller wurde tatsächlich nie gefunden. Er verschwand im Dunkel der Geschichte oder der Bedeutungslosigkeit, je nach Geschmack. Er war nicht unter den 232 Angeklagten, er war nicht unter den 167 Hingerichteten.

Wahrscheinlich konnte er sich tatsächlich unsichtbar machen. Vielleicht wandert er auch noch – zur unsterblichen Sagengestalt geworden – durch die Wälder Salzburgs. Wer weiß? Wer im Lungau urlaubt, der begegnet ihm ja vielleicht.

Auf alle Fälle wäre es eine gute Idee, auf Schloss Moosham vorbeizuschauen. Zwar ist dieses vom umtriebigen Grafen Johann Nepomuk Wilczek, einer der schillerndsten Figuren des 19. Jahrhunderts, etwas übereifrig restauriert worden, doch ein Besuch auf jener im Kern mittelalterlichen Burg lohnt sich allemal. Besonders schön ist, dass eigene Kinderführungen angeboten werden und auf der Website lachende, sackhüpfende Kinder als Blickfang dienen. Jene Gleichaltrigen, die in diesen Mauern gefoltert wurden, weil sie bettelten und stahlen, um nicht zu verhungern, hätten wohl lieber heute gelebt.

Verständlich.