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Was bleibt?

Schottenkirche, Wien (Foto: Petra Dirscherl/pixelio.de)
Schottenkirche, Wien (Foto: Petra Dirscherl/pixelio.de)

Feierlich schwebt der Gesang der Gläubigen gemeinsam mit den Weihrauchwolken im bunten, zwanzig Meter hohen Kirchenschiff, das nach dem Vorbild der Schottenkirche zu Wien errichtet worden ist. Die Sonnenstrahlen, die durch die halbrunden Fenster fallen, tasten liebevoll wie die Finger Gottes nach den Gläubigen, welche dicht gedrängt die prunkvolle Halle bevölkern, staunend, freudig, ergriffen.

An den nicht weniger als acht Altären des Gotteshauses wird jedes Jahr von etwa 35000 Menschen um Heilung gebetet, um eine gute Ernte, um Erkenntnis oder was immer im Leben der Pilgerinnen und Pilger erbetenswert sein mag. 

Die Wallfahrtskirche ist wie so vieles Wertvolle von einer Mauer umgeben, das Gelände ist wie in einer Großstadt gepflastert, der dreißig Meter lange, prächtig bemalte Innenraum des Gotteshauses wölbt sich zwischen zwei flankierenden Gängen schützend über die Gläubigen. Von weitem schon ist das Bauwerk auf dem Hügel zu sehen - doch passt es besser in eine Metropole als hier in die dörfliche Landeinsamkeit.

Auch ein Pfarrhof sowie eine Schule sind ihm angeschlossen, Einfluss und Reichtum der Mutter Kirche sind an jenem Ort ebenso deutlich zu spüren wie die Allmacht Gottes.

Es finden Kirchweihfeste statt, Spenden fließen reichlich, das majestätische Gebäude ist ein prominenter Ort, den Gläubigen der Umgebung und weit darüber hinaus ein Begriff. Pulsierendes Leben, Glanz und Ruhm prägen den Charakter des Gotteshauses auf jenem Hügel über dem ansonsten unauffälligen Dorf Rafings.

An einem grauen, wolkenverhangenen Märzsonntag stelle ich einen Fuß vom Pedal meines Rades auf den Asphalt der schmalen Straße, die aus dem eben erwähnten Ort auf den Hügel führt, auf welchem sich die wenigen Häuser von Rafingsberg befinden. Während sich mein Atem beruhigt, sehe ich mich um und lasse die Umgebung auf mich wirken.

Zwischen den Gebäuden, sie zwar überragend, aber trotzdem unübersehbar verloren, erheben sich die Mauerreste des gotischen Chors, der einst den Abschluss der Wallfahrtskirche "Sieben Schmerzen Mariae" gebildet hat. Noch zu Zeiten Maria Theresias ist dieser Ort ein geistliches Zentrum der Region gewesen, ein Umstand, der kaum vorstellbar ist, wenn man sich dort heutzutage umsieht.

Die Häuser halten nicht wie andernorts einen Respektabstand zu den Überresten des einstmals prunkvollen Gotteshauses, sondern bedrängen, ja überschreiten seine ehemaligen Umrisse. Wo einst gebetet und gefeiert worden ist, wächst bei meinem Besuch der nachwinterliche Rasen eines Gartens und die altersgrauen Mauern bilden nur noch eine pittoreske Kulisse, die sich die Natur in Form von Kletterpflanzen und vereinzelt auf ihr wachsenden Bäumchen Quadratmeter für Quadratmeter zurückerobert.

Doch warum?

 

Ganz einfach: Der Sohn und Nachfolger der bereits erwähnten Maria Theresia, nämlich Joseph II., verfügte in seinen Reformen, dass alle kirchlichen Institutionen, die keiner für die Allgemeinheit nützlichen Tätigkeit wie Schulwesen, Krankenpflege oder Seelsorge nachgingen, geschlossen werden müssten. Auch die Gestaltung von Messen und Altären, Kapellen, Orden, Prozessionen, Pilgerfahrten und Andachten waren durch eine neue Gottesdienstregel eingeschränkt. So eingeschränkt, dass ein Ort wie die Wallfahrtskirche auf dem Hügel innerhalb kürzester Zeit bedeutungslos wurde. Im Jahr 1792 - Mozart war im Jahr zuvor gestorben und in Frankreich hatte die Hochphase der Revolution begonnen - wurde sie entweiht und zum Materialpreis vom Stift Zwettl verkauft. So endete ihre Karriere.

Vom Himmel auf Erden zum Recyclingbaumaterial innerhalb weniger Augenblicke.

Es ist beileibe keine neue Idee, Menschen mit Gebäuden zu vergleichen. Schon ein galiläischer Wanderprediger hat ja seiner durchaus erfolgreichen, mehrfach verfilmten Biografie nach vor etwa 2000 Jahren gemeint: "Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten." Auch ich erkenne hier durchaus Parallelen. Menschen können immerhin nicht nur einen Dachschaden haben, sie können ebenso dunkle Winkel aufweisen, verschlossen oder generell nicht ganz dicht sein.

Ebenso sieht es mit dem Ruhm aus. Ein Gebäude wie die Wallfahrtskirche von Rafingsberg mag in einem Augenblick noch von tausenden Menschen besucht und bestaunt werden, im nächsten wird sie auf ihren Materialwert reduziert - und das nur, weil sich die Gesetzeslage geändert hat. Blöd gelaufen.

 

Vor diesen Mauerresten stehend, den Wind im Gesicht und die grauen Wolken über mir, ziehe ich folgenden Schluss:

Egal, ob es Ruhm ist, ob es Stärke ist, ob es Geborgenheit ist, nichts bleibt für immer. Ein Für-Immer kann es nicht geben, nicht in einer Welt, die für uns endliche Wesen einen Sinn haben soll. Glauben wir an dieses Für-Immer, dann setzen wir uns selbst in eine Gefängniszelle, deren Wände aus den Steinen der Naivität gefügt sind, zusammengehalten vom Mörtel der Selbstüberschätzung.

Der einzige Weg, um frei zu atmen, ist, sich nicht freiwillig in jene Zelle zu begeben.

Deshalb werde ich draußen bleiben und den Augenblick als das anerkennen, für das es sich zu leben lohnt.

Nur den Augenblick, nur das Jetzt. Alles andere ist Illusion.

So steige ich auf mein Rad, atme tief durch und rolle den Berg hinunter.

Jetzt lebe ich.

Jetzt.