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Still

Es war ein nebelverhangener, froststarrer Sonntagmorgen, an dem ich bei einer Wanderung aus Neugier und ohne genau zu wissen, was mich erwarten würde, an einen der magischsten Orte gelangte, die ich bisher betreten durfte.

Ein Wegweiser an der Wanderroute, die meine Begleiterin und ich an diesem Vormittag erkunden wollten, erweckte meine Neugierde und schnell waren wir uns einig, dass ein kleiner Abstecher in das Tal zu unserer Rechten kein Problem darstellen würde. Ein kurzes Stück bergab und schon standen wir auf einer Waldlichtung, die in ihrer feierlichen und träumerisch schwelgenden Traurigkeit wie ein Blick in eine andere Welt wirkte.

Grabkreuze neigten sich sanft wie die Masten eines schlingernden Schiffs zur Seite, umstanden von schneebedeckten Bäumen, die den kleinen Friedhof als Bühne eines ewigen Schauspiels zu betrachten schienen.

Wohin war ich hier geraten? Was war geschehen, um die Errichtung eines solchen Platzes zu rechtfertigen?

Ich wusste: Nach meiner Heimkehr würde ich die Geschichte jenes Ortes, der mich bezaubert hatte wie schon lange keiner mehr, erkunden. Von Friedhöfen war ich von Kindesbeinen an fasziniert gewesen, der Tod war mir, dem Lebenden, immer schon wie ein lächelnder Begleiter zur Seite gestanden. Er hatte mir beim Zeichnen die Hand geführt, er hatte mir beim Schreiben die Worte ins Ohr geflüstert und nun hatte er mich hierher in seinen wintererstarrten Garten gelockt.

Unwillkürlich musste ich beim Anblick dieser Lichtung an den Friedhof der Namenlosen in Wien denken, jenen Ort, der die Körper der Unglücklichen birgt, die die Donau im Laufe der Jahre wieder freigegeben hat, nachdem sie zuvor beliebt hat, ihnen das Leben zu nehmen. Doch der Strom war weit weg. Was war die Todesursache der Menschen in den Gräbern zu meinen Füßen?

 

Ein wenig verriet mir bereits der Gedenkstein in der Mitte des kleinen Friedhofs: Hier waren Opfer der Cholera bestattet worden, die in der Gegend im Jahre 1866 gewütet hatte. Doch erst zu Hause war es mir in Ruhe möglich, die näheren Umstände ihres Todes zu recherchieren:

In der Stille jenes Tals unweit von Horn befindet sich seit über eineinhalb Jahrhunderten die letzte Ruhestätte für 39 Tote aus den Ortschaften Mold, Mörtersdorf und Zaingrub. Sie alle wurden zwischen dem 8. August und dem 15. Oktober 1866 abseits der Dörfer in jener Waldeinsamkeit beigesetzt, ihre Gräber mit beinahe uniformen schmiedeeisernen Grabkreuzen versehen. Nur eines weist einen Grabstein aus Granit auf. Jede und jeder Bestattete ist ein Kriegsopfer, doch niemand fiel durch eine Kugel. Wie das kam? Eigentlich ganz einfach. Tragisch einfach.
Während des Preußisch-Österreichischen Kriegs brach 1866 im Heer der Preußen die Cholera aus. Da der Erreger dieser Krankheit mit dem Stuhl ausgeschieden wird, kann er unter schlechten hygienischen Bedingungen - also etwa in einem Feldlager - schnell in Nahrung und Wasser gelangen und so weiterverbreitet werden. Mit dem Vormarsch der preußischen Armee brach die Cholera auch in jenen Teilen Niederösterreichs aus, die von preußischem Militär betreten wurden. Beim Durchmarsch quartierten sich Soldaten auch in der Umgebung von Horn ein. Am 4. August 1866 starb der preußische Soldat Gustav Maverspörg an der Cholera, er wurde jedoch noch am Pfarrfriedhof von Maria Dreieichen begraben. Schon vier Tage später erfolgte die erste Beisetzung eines Einheimischen auf dem „Cholerafriedhof beim Ziegelofen oder Ziegelstadel“. 

Drei traurige Monate lang brachten die Bewohner der genannten Dörfer alle zwei bis drei Tage einen Toten in die Waldeinsamkeit, um ihn hier zur ewigen Ruhe zu betten. Da die direkte Übertragung von Mensch zu Mensch im Falle der Cholera seltener ist als die Übertragung via Fäkalien, kann man davon ausgehen, dass auch die hygienischen Bedingungen in den Waldviertler Dörfern des Jahres 1866 nicht die besten waren. Nachdem der Spätsommer in den Herbst übergegangen war, kehrte allerdings Ruhe ein und das Schreckgespenst der Cholera war gebannt.

Nur der Friedhof im Wald zeugt bis heute von jener Zeit. Er ist noch immer da. Unaufdringlich. Wie ein bescheidener Gastgeber, der eine schweigende Festgesellschaft unter seinem Dach beherbergt.

Lächelnd, charmant und still.