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Steinern

Wer im österreichischen Norden Steinblöcke ersteigt und diese genauer betrachtet, dem drängt sich ziemlich sicher (so er diese denn kennt) die Erinnerung an Kurt Tucholskys Kurzgeschichte "Wo kommen die Löcher im Käse her?" auf.

Im gesamten und eben auch sehr häufig im nördlichen Waldviertel gibt es Granitblöcke, die wie bizarre, überlebensgroße Skulpturen eines rasenden Bildhauers wirken. Sie tragen auffällige Vertiefungen, die im Volksmund alle möglichen fantastischen, sagenschwangeren Namen tragen.

Im Zusammenhang mit diesen zweifellos beeindruckenden und auf den ersten Blick durchaus rätselhaften Gebilden halten sich eine Menge Halbwahrheiten oder sogar handfeste Irrtümer. Manche der landläufigen Erklärungen sind nämlich fast so „überzeugend“ wie die in der oben erwähnten Kurzgeschichte genannten.

Lange Zeit hat man schon von Grund auf eine irrige Meinung vertreten, was die Entstehung jener Granitblöcke angeht. Sie wurden bis Mitte des letzten Jahrhunderts offiziell als "Findlinge" bezeichnet. Mit diesem Begriff sind allerdings landläufig Steine gemeint, die durch Gletscheraktivitäten versetzt worden sind. Mittlerweile weiß man, dass diese Annahme falsch ist. Heute bezeichnet man sie korrekter als "Restlinge", also als Überbleibsel des urzeitlichen Variszischen Gebirges.

 

Die beeindruckenden Formen, die majestätischen Gebilde und die mysteriösen Schalen, die der Granit aufweist, haben immer schon die Fantasie der Menschen angeregt. Die wissenschaftlichen Erklärungen zur Entstehung der titanischen Blöcke sind allerdings eher nüchterne: Das Gestein Granit sprang durch seine spezielle Kristallstrukur meist bereits tief unter der Erde senkrecht und waagrecht und zerfiel dabei in würfel- oder quaderförmige Blöcke. Durch die Plattentektonik und durch Erosion des Bodens wurden diese Felsen im Laufe der Zeit freigelegt. Wind und Wetter sorgten anschließend durch das beständige Abschleifen der harten Kanten für die sogenannte "Wollsackverwitterung".

Deshalb kann man an den geschützter liegenden Felsformationen auch noch ungleich schärfere Kanten feststellen als an den ausgesetzteren, wie das nebenstehende Bild deutlich macht.

 

Doch zurück zum Thema "Schalen":

Die meisten heute sichtbaren Vertiefungen entstanden ebenfalls wohl bereits unterirdisch wie das Zerbrechen des Gesteins durch chemische oder thermische Reaktionen. Dazu kam, dass Granit trotz seiner Härte ein sehr poröses Gestein ist, also relativ leicht zerfällt. Der dabei entstehende Sand wird übrigens "Grus" genannt und ist als Abfallprodukt der abgeschliffenen Steine bis heute verantwortlich für die Zusammensetzung des Bodens, in dem der Erdapfel (vulgo die Kartoffel) besonders gut gedeiht.

 

Eine andere Theorie zur Entstehung der Schalen lautet, dass etwa Fichtensamen auf die Steine fielen und sich – anspruchslos wie diese Pflanzen nun einmal sind – zu Bäumchen entwickelten. Die Flachwurzeln lockerten durch ihr Wachstum das kristalline Gestein nach und nach. Durch Witterungseinflüsse (etwa Stürme) fiel der junge Baum um und übrig blieb eine grobe Schale. Wasser und andere Witterungseinflüsse schliffen diese dann über die Jahrtausende weiter ab.

 

Andererseits soll aber nicht bestritten werden, dass manche Schalen (allerdings wohl weniger als vielleicht angenommen) von Menschen erschaffen wurden. Ob das jedoch kultische oder ganz profane Zwecke hatte, ist nicht geklärt und wird dies wohl auch nie werden. Hier sind der Spekulation Tür und Tor geöffnet - und diejenigen, die das Waldviertel so gern als "mystisch" verkaufen, können sich hier mit verschiedensten Theorien an die Öffentlichkeit wagen - auch wenn diese in absehbarer Zeit weder beweisbar noch widerlegbar sein mögen.

Falls einige Schalen wirklich religiösen Zwecken dienten, wäre interessant, wie dieser Kult letztendlich aussah. Waren es Opferfeste, in denen Getreide oder andere Speisen in die Schalen gelegt und den Gottheiten überlassen wurden? Wurden hier Brandopfer dargebracht - was archäologisch nachweisbar sein müsste? Man weiß es nicht, kann aber aus manchen Überlieferungen oder tradierten kirchlichen Festakten im Zusammenhang mit den Steinen vielleicht das eine oder andere ableiten.

 

Eher in den Bereich der modernen Mythen einzuordnen ist wohl die Bezeichnung der Steine als von Kelten oder Germanen geschaffene Kultstätten. Diese Völker haben maximal (viel) ältere Bräuche im Zusammenhang mit den Granitblöcken übernommen oder zu ihrem Weltbild passend transformiert, genauso wie das die Katholische Kirche in den letzten Jahrhunderten in jener Gegend ebenfalls gemacht hat.

Nichtsdestotrotz können diese Felsgiganten mit oder ohne Schalendekor jedem Menschen in der unmittelbaren Begegnung die eigene Vergänglichkeit und Unwichtigkeit bewusst machen, ein Erlebnis, das durchaus spirituell prägend sein kann – ganz ohne vorgegebenen Kult welcher Art auch immer.