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Kopflos

Litschau ist, das kann in jedem Atlas nachgeschlagen werden, die nördlichste Stadt Österreichs. Dementsprechend hat sie auch die nördlichste Konditorei, die nördlichste Mittelschule und wahrscheinlich ebenso den nördlichsten Zahnarzt unseres schönen Österreichs und noch viele ähnliche Superlative dieser Art mehr zu bieten.

Umgeben von weitläufigen Wäldern thronen Burg und Schloss Litschau romantisch über der etwas verschlafenen Stadt und verleihen ihr gemeinsam mit der gotischen Kirche und den noch deutlich sichtbaren Stadtmauern Anflüge mittelalterlichen Flairs. So pittoresk dies alles auch wirken mag, bei allen geschichtlich Interessierten schwingt bei dem Anblick dieser Festung auch immer die düstere Erinnerung an die blutigen Taten des ehemaligen Burgherrn Wenzel Morakschi von Noskau mit, der an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert dortselbst residiert hat.

Wenzel Morakschi von Noskau. Falls sich nicht bereits beim Klang dieses Namens Gänsehaut einstellt (und bei den meisten Leserinnen und Lesern dieses Beitrags wird dies wohl nicht der Fall sein), soll an dieser Stelle ein kleiner Ausflug in die Geschichte unternommen werden:

 

Zur Zeit jenes Litschauer Burgherrn – wenn auch nicht auf sein Geheiß, sondern von viel höherer Stelle befohlen – wurden die männlichen Untertanen des Landes in unverantwortlich großer Zahl (zeitweise nämlich jeder zweite) zum Kriegsdienst im Kampf gegen das Osmanische Reich zwangsrekrutiert, was zu verzweifelten Aufständen, den sogenannten "Bauernkriegen" führte.

Vor die Wahl zwischen dem Verhungern und der Rebellion gestellt, entschieden sich viele Mitglieder des einfachen Volkes für Zweites, was von Kaiser Rudolf II – dem es wie den meisten Herrschern offensichtlich an Einblick oder Interesse an den wirklichen Lebensumständen seiner Untertanen mangelte – als offene Kampfansage gegen die Monarchie gewertet wurde.

Er beauftragte seinen Statthalter, Erzherzog Matthias, mit der unfeinen Aufgabe, sich dieses lästigen Problems ehebaldigst zu entledigen. Dieser wiederum wollte sich bei jenem unangenehmen Auftrag auch nicht selbst die Finger schmutzig machen und gab die Planung sowie die Durchführung der beschlossenen Niederwerfung der Aufständischen an den bereits erwähnten Litschauer Burgherrn weiter, da sich dieser schon in der Vergangenheit als Mann fürs Grobe bewährt hatte.

Dezidiert befahl der Erzherzog ihm nicht nur die Aufstellung eines etwa 3000 Mann starken Söldnerheeres, an dessen Spitze die bald im Volk beispiellos gefürchteten "Schwarzen Reiter", eine Einheit von etwa 700 Mann, standen, sondern wies ihn auch genau an, wie mit den Aufständischen umzugehen sei. 

Hier ein Auszug aus dem Originalschreiben des Erzherzogs Matthias an Wenzel Morakschi von Noskau. Jene Bauern, die nicht kapitulieren wollten, befiehlt der Erzherzog in einem Schreiben vom 23. März 1597:

...die wellest du ohn alle Barmherzigkeit alsbald mit Feuer und Schwert angreifen, Weib und Kinder hernehmen. Neben dem Ohren- und Nasenabschneiden wellest mit Rat deiner Mitkommissionarien bedacht sein, etlichen, die es wohl verdienen, die Finger oder gar die recht Hand abzustutzen.

 

Nicht nur Feuer und Schwert sollten diese Auseinandersetzung entscheiden, auch die Angst um ihre Familien sollte die aufständischen Bauern und Handwerker wieder zu gehorsamen Untertanen machen. Frauen und Kinder der Rebellen sollten ja in den Arrest geworfen und verstümmelt werden. Bis auf die drastischen Details der Auftragsausführung erinnert jene Befehlskette frappant an aktuelle politische Dienstwege, wie sie nach Auffliegen derselben nicht selten in den Medien publik gemacht werden. Auch brave Befehlsempfänger wie den bereits erwähnten Litschauer Schlossherrn soll es heute noch in nicht zu geringer Zahl geben.

Wenzel Morakschi von Noskau kam also mit seinen Söldnern all diesen Befehlen äußerst eifrig nach, wobei das Verstümmeln von Gefangenen tatsächlich zur bevorzugten Taktik der Truppe wurde.

Zwar konnte durch diese Repressalien letzten Endes der Aufstand niedergeschlagen werden, Erzherzog Matthias ließ es sich aber nicht nehmen, dem Litschauer Burgherren einerseits seine Anerkennung für die erbrachten Leistungen, gleichzeitig aber auch seinen Tadel wegen der brutalen Vorgehensweise seiner Männer auszusprechen – und das , obwohl dieses auf seinen eigenen ausdrücklichen Befehl erfolgt war. Man sieht, sauberes Image war in der Politik auch damals schon unverzichtbar, ganz egal, wie viel Dreck (oder in diesem Fall Blut) man am Stecken hatte.

Doch die Litschauer Bevölkerung konnte an dieser Stelle natürlich nicht einfach einen Schlussstrich ziehen. Hatten die kleinen Leute der Gegend lange genug unter dem allzu braven Befehlsempfänger leiden müssen, so schlugen sie mit der Waffe der Fantasie zurück. Und diese verletzte das Ansehen des Litschauer Burgherrn länger, als jede Klinge oder jeder Prügel es jemals gekonnt hätte.

Wie das? Ganz einfach: Heute noch wird in Litschau die Sage erzählt, dass Wenzel Morakschi von Noskau bis in alle Ewigkeit zur Sühne seiner Verbrechen in Vollmondnächten mit abgeschlagenem Kopf (übrigens der typischen Strafe für die Anführer der Bauernaufstände) über die Kragsteine des Bergfrieds der Litschauer Burg wanken müsse.

Die Welt der Fantasie hatte wieder einmal, wenn auch mit heftiger Verspätung, über die Realität gesiegt.

Das alles klingt vordergründig nach einer wirklich guten Geschichte.

Woran aber erkennt man andererseits wirklich schlechte Geschichten?

An der Verworrenheit der Handlung? – Der reale Lebensfaden der meisten Menschen weist oft mindestens so viele Knoten auf wie das chaotischste Filmdrehbuch.

An der Simplizität der Sprache? – Eine wirklich gute Story kann man auch mit wenigen einfachen Worten erzählen.

An der offensichtlichen Unglaubwürdigkeit der Protagonisten? – Höchstwahrscheinlich. Sind die Figuren unglaubwürdig oder papieren, stirbt jede ursprünglich noch so interessante Geschichte.

Auch die Wirklichkeit schafft keine eindimensionalen Charaktere. Selbst die klassischen Bösewichte, ganz gleich ob sie historisch oder nur literarisch seien, sehen sich selbst ja nicht als solche, sondern als Erfüller der Vorhersehung oder Reagierende auf äußere Umstände. Genau dies gilt wohl auch für Wenzel Morakschi von Noskau. Er wütete – wie ich ja ausführlich erwähnt habe – mit Hilfe seiner Soldateska grausam unter der Bevölkerung des Waldviertels. Trotzdem funktioniert dieser Freiherr von Morakschi als einseitige Schurkenfigur nicht richtig, zu viele Ungereimtheiten scheinen in seiner Vita auf.

Bekannt ist zum Beispiel die Anordnung seines Vaters Johann, im ebenfalls im Waldviertel gelegenen Drosendorf ein Bürgerspital zu errichten. In einer alten Chronik ist zu lesen, dass jene Einrichtung für zehn verarmte Bürger vorhanden sein solle. Diese dürften in dem Spitalsgebäude wohnen und dort Heizung, Licht sowie Verpflegung erhalten. Ihre einzige Verpflichtung wäre, dass sie in der Früh, mittags und abends für die Familie des Stifters in der Spitalskapelle einen Rosenkranz zu beten hätten.

Ein für damalige Verhältnisse außergewöhnlich sorgloses Leben gegen eine rein symbolische Gegenleistung führen zu dürfen, muss den „verarmten Bürgern“ geradezu lebensrettend erschienen sein – und wahrscheinlich war es das tatsächlich im wörtlichen Sinne.

Sollte der Sohn tatsächlich gar nichts von der sozialen Ader des Vaters geerbt haben? Ging es ihm nur darum, als politischer Günstling für die Drecksarbeit hoher Herren reich entlohnt zu werden?

Die Aufzeichnungen geben dazu wenig Auskunft. Wenzels blutige Taten überschatten offenbar bis heute alle anderen Aspekte seiner Persönlichkeit.

Sollte tatsächlich eine Schurkenkarikatur auf Schloss Litschau residiert haben? Ich glaube nicht.

Es ist wohl so, dass letzten Endes kein Bild, das wir Heutigen uns von historischen Figuren (wie zum Beispiel von Wenzel Morakschi von Noskau) machen, der Realität gerecht wird.

Und macht nicht genau das das Stöbern in unserer Vergangenheit und das Herantasten an die Menschen jener Zeiten so interessant?

Ein kleiner Hinweis, dass hinter dem scheinbaren Monster sehr wohl ein Mensch steckte, ist ein prunkvolles Epitaph in der Litschauer Pfarrkirche. Es erinnert an den als fünf Monate alten Säugling verstorbenen Hans Christoph Morakschi von Noskau, den Sohn des Burgherrn. Das Kind war bereits ein Jahr tot, als der Vater mit der Herrschaft Litschau belehnt wurde. Zu seiner Erinnerung allerdings ließ Wenzel eine unglaublich aufwändig geätzte, kostbare Steinplatte mit dem Porträt des Kindes an prominenter Stelle im Kirchenschiff anbringen.

Wenn man vor jener Steintafel in der Wand der an sich schon beeindruckenden gotischen Pfarrkirche von Österreichs nördlichster Stadt steht, könnte man durchaus annehmen, dass hinter der grausamen Fassade des Bauernschlächters auch ein trauernder Vater verborgen gewesen sein könnte.