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Andenken

So nähert er sich wieder, der sechste Dezember. Sollte einer meiner ältesten Freunde diese Zeilen lesen, dann sei hier festgehalten: Nein, Raphi, dein Geburtstag ist nicht gemeint. Vielmehr möchte ich ein paar Worte über den heiligen Nikolaus verlieren, jenen Mann, dessen Festtag es ja auch ist. Obwohl er an jenem nicht geboren, sondern angeblich gestorben sein soll.

Und da war es auch schon, das böse Wort: angeblich.

Im Zusammenhang mit Nikolaus ist es zentral, unvermeidlich, penetrant allgegenwärtig.

 

Der Volksglaube - hier im Waldviertel ebenso wie in anderen Teilen Europas - stilisiert Sankt Nikolaus zum Eintagesleihopa, der  die Kinder des jeweiligen Haushalts für ihr als angenehm empfundenes Sozialverhalten entlohnt. Begleitet wird er hierbei (früher öfter als heute) vom Krampus, einer mir sympathischeren, da durch und durch ehrlichen, Figur. Um diesen soll es aber ein andermal gehen.

Foto: pixelio.de
Foto: pixelio.de

Neugierig, wie ich nun einmal bin, nahm ich mir ein wenig Zeit, um dem Menschen hinter dem Mythos "Nikolo" auf den Grund zu gehen. Was ich fand - oder besser, was ich nicht fand - erstaunte mich ein wenig. Immerhin glaubte ich aufgrund meiner Halbbildung, doch ein bisschen über das historische Vorbild jener volkstümlichen Heiligenfigur zu wissen. Pustekuchen, wie unsere Lieblingsnachbarn zu sagen pflegen.

Alle Informationen über den heiligen Nikolaus stammen aus der Feder von Biografen, die Jahrhunderte nach ihm gelebt haben. Was diese erzählen, ist zum allergrößten Teil legendenhaft, kaum ein Detail kann wirklich historisch dingfest gemacht werden.

Die dürftigen Informationen, die (vielleicht!) stimmen, sind folgende:

Nikolaus wurde irgendwann zwischen 270 und 286 n. Chr. in Patara, einer antiken Stadt in der heutigen Provinz Antalya (Türkei) geboren. Nach der Priesterweihe durch seinen gleichnamigen Onkel, der Bischof von Myra, dem heutigen Demre (ebenfalls in der Provinz Antalya gelegen) war, wurde er bereits in jungen Jahren Abt eines Klosters in derselben Gegend. Die Römer nahmen ihn im Zuge der diokletianischen Christenverfolgung im Jahr 310 fest und folterten ihn. In seiner späteren Funktion als Bischof von Myra - er war also in die Fußstapfen seines Onkels getreten - verschenkte er sein ererbtes Vermögen an Notleidende. Er starb je nach Quelle am sechsten Dezember des Jahres 326, 345, 351 oder 365. Schon allein dieser letzte Satz sollte deutlich machen, auf wie dünnem Eis sich jede Autorin und jeder Autor bewegt, die oder der sich mit Nikolaus beschäftigt.

Überlagert werden diese spärlichen Informationen von einer großen Menge an Legenden und Anekdoten, die man sich über Bischof Nikolaus erzählt. Er soll Mädchen vor der Prostitution bewahrt, einen Sturm auf See besänftigt, Getreide vermehrt, Unschuldige vor der Hinrichtung gerettet, die römische Göttin Diana bekämpft und zerstückelte oder erwürgte Mordopfer sowie Ertrunkene wieder ins Leben geholt haben. Schon als Säugling soll er darüber hinaus bereits fromm genug gewesen sein, zur Fastenzeit nur einmal wöchentlich an der Mutterbrust zu nuckeln. Und postum ließ er zwei Quellen an seinem Grab entspringen: eine für Wasser und eine für Salböl. Ein feiner Kerl, dieser Nikolaus.

Eine weitere Anekdote, die allerdings etwas historischer anmutet, ist jene, die schildert, wie Nikolaus im Jahr 325 n. Chr. am Konzil von Nicäa teilgenommen und dort in der Diskussion mit einem gewissen Arius plötzlich handgreiflich geworden sein soll.  Arius war bekannterweise jener Kirchenvater, der sich lautstark gegen das in seinen Augen schlicht und ergreifend unlogische Prinzip der Dreifaltigkeit Gottes ausgesprochen hatte. Aufgrund dieser Schlägerei vor ehrwürdigem Publikum sei der Bischof von Myra sogar verhaftet, letztendlich aber noch rehabilitiert worden. Vielleicht doch nicht so ein feiner Kerl, dieser Nikolaus.

 

Was auch noch zur Verwirrung um seine Person beiträgt, ist der Umstand, dass einige der Legenden ursprünglich gar nicht auf Nikolaus von Myra zurückgehen, sondern auf den gleichnamigen Abt von Sion, einem Kloster ganz in der Nähe. Dieser wurde später ebenfalls Bischof, wenn auch in Pinara, einer anderen antiken Stadt in der heutigen Türkei. Er lebte jedoch etwa 200 Jahre nach dem prominenten Heiligen. Das hinderte diverse Chronisten allerdings nicht daran, diese beiden Personen legendentechnisch in einen Topf zu werfen.

Ich persönlich finde das bis dato letzte Kapitel der Nikolaus-Forschung am spannendsten:

Nachdem die Gebeine des Bischofs bereits im elften Jahrhundert von italienischen Kaufleuten geraubt worden und aus der Türkei in ihre Heimat gebracht worden waren, baute man im dortigen Bari eine Wallfahrtskirche. Der Hintergrund der Aktion war weniger ein frommer als ein handfest-finanzieller: Immerhin waren Wallfahrten der Tourismustrend des Mittelalters. Ein Ort, der mit Reliquien eines prominenten Heiligen aufwarten konnte, hatte volle Beherbergungsbetriebe, konnte diverses Merchandise verhökern und vieles mehr.

Im Zuge von Renovierungsarbeiten jener Basilika wurde in den 1950er Jahren das Grabmal des heiligen Nikolaus geöffnet. Bei dieser Gelegenheit führte man forensische Untersuchungen an den darin gefundenen Gebeinen  durch. Die Überreste waren die eines 72 bis 80 Jahre alten Mannes, der selbst für damalige Verhältnisse mit ca. 160 Zentimetern nicht allzu groß war, aber einen umso massiveren Schädel aufwies. Er musste zu Lebzeiten unter schwerer Arthritis an Wirbelsäule und Becken gelitten haben. Darüber hinaus fand man am Schädelknochen eine Verdickung, die ihm möglicherweise chronische Kopfschmerzen beschert hatte. Weitere fünfzig Jahre später rekonstruierte eine amerikanische Anthropologin das Gesicht des historischen Nikolaus. Dabei wurde auch eine Asymmetrie der Nase offenbar, was unter Umständen auf einen unsachgemäß oder gar nicht behandelten Nasenbeinbruch zurückzuführen sein dürfte. Vielleicht eine Erinnerung an die Folterung durch die Römer im Zuge der Christenverfolgung?

Die Gesichter des heiligen Nikolaus sind also nicht nur im wortwörtlichen Sinne verschiedene, auch die Bilder, die sich die Menschen von ihm machen, sind durchaus unterschiedlich: Hier der liebenswürdige, etwas steife, aber immer freundliche alte Herr mit Rauschebart und Mitra, der mit seinem goldenen Buch unter dem Arm von Tür zu Tür geht, um die Kinderlein zu beschenken; dort das Folteropfer, dem von der Besatzungsmacht das Gesicht zertrümmert wird, oder das Raubein, das in religionsphilosophischer Rage selbst schon einmal das Gegenüber durch Zuschlagen zum Schweigen bringen möchte.

Und was erblicken wir, wenn wir selbst in den Spiegel schauen? Wohl selten das, was andere in uns sehen.

Genauso wenig wie es die wahre Person Nikolaus gibt, so wenig gibt es die wahre Person Christian Vajk, Lisi Meier oder Maxi Huber (bitte die Namensliste beliebig lang fortzusetzen).

Wer immer wir sind, wir bleiben ein Geflecht aus mehr oder minder wahren Legenden, Anekdoten oder aber bewussten Lügen. Positiven wie negativen. Saint and sinner. Gleichzeitig und reibungslos in einer Person. Ausnahmslos alle, die über uns reden, haben nicht ganz unrecht. Das ist das Geschenk, das mir Nikolaus von Myra heute schon gemacht hat.

Danke, alter Mann.

Und nimm nächste Woche auch den Krampus und meinen Freund Raphi mit, ich möchte mit euch einen heben.