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Spurensuche

Manchmal muss ich an Orte gehen, von denen ich geglaubt habe, sie hinter mir gelassen zu haben. Hin und wieder fühle ich das dringende Bedürfnis, mich dorthin zu begeben, wo ich meine Haltung zum Leben erlernt habe, wo die Wurzeln meiner Neugier sich im Boden winden.

 

Es sind Orte, die nicht nur im übertragenen Sinne voll dunkler Winkel sind, alt, prall gefüllt mit Erinnerungen und zaghaft beschienen von bernsteinfarbenem Licht. Die Innenhöfe, die Gassen, die Mauern von Wiens Innenstadt begleiten mich seit bald vierzig Jahren im Wachen wie im Träumen. Sie sind Schauplatz meiner Geschichte wie meiner Geschichten. Aus ihren Schatten schälen sich die Figuren meiner Erinnerung. Dort ist mir beigebracht worden, die Kunst ebenso zu lieben wie die Vergangenheit.

 

Diese Stadt wird mich nie loslassen, egal, wo ich auch wohne. Sie wird mich immer rufen und danach verlangen, porträtiert zu werden, jene hagere Matrone, die in ihrem Verfall so voller Schönheit ist. 

Generationen von Menschen haben sie bevölkert, haben in ihr gelitten, sich an ihr und aneinander erfreut, sind in ihr geboren worden und ebenso gestorben, unerkannt, unbeachtet, unerinnert. Und doch sind sie alle noch da, flüstern in den grauen Steinen, glotzen von den Dächern und seufzen unter unseren Schritten auf dem Pflaster der Stadt. 

 

Mit ihnen in Kontakt zu treten, ist erst dann möglich, wenn man sich selbst zu einem Teil dieser Umgebung macht, wenn man in ihr wirksam wird, sie mitgestaltet. Unsere Fantasie und unsere Lebensfreude sind die Schlüssel zum Verständnis unserer Umgebung und ihrer Geschichte.

Sich den kargen Raum eines der ältesten Gebäude der Stadt mit Klängen zu erobern, die wie aus einer anderen Zeit herüberhallen, aber auch die Gegenwart in all ihrer Kraft feiern, ist einer der wenigen Wege, ein Teil der Historie jenes Ortes zu werden. Sich in die lange Reihe derer zu stellen, die in einem tausend Jahre alten Kirchenschiff ihre Geschichten und Überzeugungen offen vor anderen Menschen ausgebreitet haben, ist nicht nur Befolgung, sondern Belebung von Tradition.

Ein Zeichen dafür, dass die Vergangenheit in der Gegenwart lebt. Ein Zeichen dafür, dass Lieder - woher immer sie auch stammen mögen - Menschen und Orte zusammenbringen können. 

 

Danke, Jannis.