· 

Sankt Martin

Gestern war ich – traditionell verhaftetes Wesen, das ich nun einmal bin – Ganslessen im Gasthof Böhm in Leopoldsdorf. (Unnötig zu erwähnen, dass es deliziös war, eine klare Empfehlung meinerseits. Wer sich in den hohen Norden verirrt, sollte die Küche dieses im besten Sinne urigen Dorfwirtshauses nicht verpassen. So, Werbeeinschaltung beendet.)

Gans esse ich allerdings nur selten, so wie die meisten meiner Landsfrauen, -männer und -kinder. Einmal im Jahr kommt man diesem lukullischen Happening als bekennender Carnivore allerdings in ländlichen Gefilden kaum aus. Momentan rückt ja der elfte November, das Fest des heiligen Martin, näher. Auch wenn ich ungefähr so katholisch wie Luzifer selbst bin, sind doch manche kirchlichen Bräuche aus dem Waldviertler Alltag und damit auch aus meinem nicht wegzudenken, so etwa der alljährliche Massenmord (inklusive anschließender Einverleibung) an den domestizierten Brüdern und Schwestern der von Konrad Lorenz so wunderbar verhaltensforschungstechnisch instrumentalisierten Graugans. 

Über die Wurzeln dieses Brauchs – die übrigens mitnichten im Christentum zu suchen sind –, habe ich bereits in einem Kapitel meines Büchleins “Nordwandern” berichtet. Aus diesem Grund möchte ich jenes nahrhafte Thema hier nicht noch einmal anschneiden, sondern finde es interessanter, mir den Heiligen, der wie der Calafati im Prater im Mittelpunkt der Legenden steht, die sich unermüdlich um ihn drehen, näher zu beleuchten: 

 

Besonders gerne wird Sankt Martin wohl in der Kleinkindpädagogik bemüht. Zu verlockend ist es, die Legende von der Mantelteilung als Beispiel gelebter Nächstenliebe zu propagieren und den hoffnungsvollen Nachwuchs damit auf das Leben als sozial vorbildlich agierende Staatsbürger und Gemeindemitglieder einzuschwören. Auch wenn manche Eltern noch keinen Cent an Bedürftige gespendet haben und/oder wenn sie in (a)sozialen Medien gegen Flüchtlinge hetzen: die Mantellegende darf im Kindergarten auf keinen Fall ausgelassen werden. Das hieße ja, zutiefst deutschösterreichisches Brauchtum zu verraten.

So weit kommts am Ende noch. 

Der historische Martin allerdings weicht von dieser weichgespülten Heiligenfigur doch deutlich ab.

Bereits sein Name macht deutlich, mit welchem Dilemma er sich den Großteil seines Lebens herumzuschlagen hatte. “Martinus” (so die authentische lateinische Form) bedeutet ja nichts anderes als “Sohn des Mars”, also des römischen Kriegsgotts – in übertragenem Sinne also “der Krieger”. Diesen Namen hatte er garantiert nicht zufällig bekommen, denn er war der Sohn eines römischen Militärtribuns, der in der Provinz Pannonien (also dem heutigen Ungarn bzw. dem Burgenland) stationiert war.

Auch in der Heimat des Vaters, in der Nähe von Mailand, verbrachte er Teile seiner Kindheit und kam dort erstmals mit den Lehren des Christentums, die ihn offenbar sehr faszinierten, in Berührung. Bereits mit zehn Jahren wurde er Anwärter für die Taufe, was durchaus außergewöhnlich ist und auf die Entschlossenheit des Kindes hindeutet: Zu dieser Zeit war nämlich noch die Erwachsenentaufe üblich, die erst nach eingehender Unterweisung gewährt wurde.

Kurz darauf begannen Traum und Wirklichkeit im Leben des Buben aufeinanderzuprallen, was auch seine Taufe (vorerst) verhinderte. Als Sohn eines römischen Offiziers war Martinus nämlich zum Militärdienst verpflichtet und wurde im zarten Alter von fünfzehn Jahren zur Leibwache des damaligen Kaisers Konstantin II eingezogen – ein Leben, das wohl kaum seinen christlichen Idealen gerecht werden konnte. Man kann davon ausgehen, dass der junge Martinus die Bibelstelle Matthäus 26, 52 kannte: “Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.” Und plötzlich war er professioneller Bodyguard, dessen Arbeitsgerät das gefürchtete Schwert war.

Martinus Biograf und Weggefährte Sulpicius Severus deutet in seiner Vita des Heiligen immer wieder diesen Zwiespalt zwischen Überzeugung und Beruf an. Zu einem Höhepunkt jenes inneren Kampfes kam es vor einer Schlacht in der Nähe des heutigen Worms, als der junge Offizier Martinus aufgrund seiner Gewissenskonflikte offiziell um Entlassung aus dem Militärdienst ansuchte. Die Antwort war negativ. Erst lange Zeit später, nach der vorgesehenen Dienstzeit von 25 Jahren, wurde ihm gestattet, das Kriegshandwerk an den Nagel zu hängen. Mittlerweile war er 40 Jahre alt, für einen Berufssoldaten im vierten Jahrhundert ein durchaus stolzes Alter. Immerhin hatte er es neben seiner militärischen Laufbahn geschafft, mit Mitte dreißig doch noch getauft zu werden – ein deutlicher Hinweis darauf, wie hartnäckig Martinus an seinen christlichen Idealen festhielt, ungeachtet der Tatsache, dass er sein Brot mit dem Töten von Menschen verdiente. 

Als Veteran konnte er sich nun ganz seinen wirklichen Interessen hingeben:

Erst wurde er Schüler des Bischofs Hilarius (der ihn auch getauft hatte) und zog sich anschließend - ganz im Sinne von Selbstfindung und Bewusstseinserweiterung - als Eremit auf eine Insel im Golf von Genua zurück. Da die Menschen aber damals nicht viel anders als heute waren, wurde er bald zu einer Art Touristenattraktion und Guru, was ihm schnell zuwider wurde.

Er flüchtete aus dieser Rolle, indem er nach Pannonien zu seiner Mutter reiste, die er bei jener günstigen Gelegenheit gleich einmal zum Christentum bekehrte.

Anschließend wanderte er nach Gallien (also ins heutige Frankreich) aus, wo er etwas im Christentum westlicher Prägung Neues installierte: Er gründete die ersten Klöster - wohl nach dem Vorbild der damals sicher noch teilweise bekannten Druidenschulen. Das brachte ihm einerseits Beachtung der Kirchenführung und damit verbunden bald die Bischofsweihe ein.

Offenbar sehr geschickt (wenn auch wohl nicht ganz skrupellos) machte er sich darüber hinaus als Missionar im noch dem Keltentum verhafteten Frankenreich einen Namen.

Martinus war auch in Glaubensfragen durchaus streitbar und legte sich nicht nur immer wieder mit der hohen Politik in der Person des damaligen Kaisers Maximus an, sondern auch mit seinen Bischofskollegen.

Mit mehr als 80 Jahren starb er, prominent, einflussreich und schon zu Lebzeiten hochverehrt. 

Dieser historische Martin war eine schillernde Figur, deren Reifungsprozess durch Jahrzehnte der Selbstverleugnung und -reflexion ermöglicht worden war, ein Mann, der manche der zentralen Ideen eines Franz von Assisi vorwegnahm, aber auch ein brillanter Kirchenpolitiker sein konnte, wenn es ihm um Inhalte ging. 

 

Mit der durchaus naiven Figur, als die er heute gerne dargestellt wird, hat jener Mann nichts gemein. 

Übrigens nicht einmal den vielzitierten roten Legionärsmantel. Der war bei einem Offizier seines Ranges und seiner Zeit weiß und pelzverbrämt. Das musste ich noch anbringen, um auch die letzte Legende um seine Person zu zerstören. 

 

Tut mir wirklich leid.