Mörderische Vaterliebe

Quelle: aquarell13/pixelio.de
Quelle: aquarell13/pixelio.de

Werfen, eine florierende Gemeinde im Salzburger Pongau, ist heute bei Urlauberinnen und Urlaubern aus aller Welt beliebt. Skitouristen, Sommerfrischler, sie alle genießen das pittoreske Bergpanorama und die Salzburger Gastlichkeit. Die bekannteste Attraktion ist wohl die Eisriesenwelt, die größte Eishöhle unseres gesamten Heimatplaneten.

Geschichtsinteressierte hingegen zieht es wahrscheinlich eher auf die über 900 Jahre alte Burg Hohenwerfen.

Als Filmkulisse des Klassikers „The Sound of Music“ durfte Werfen Mitte der 1960er Jahre auch bereits dienen. Wunderschön.

Und für alle, die sich lukullischen Genüssen verschrieben haben, ist das durchaus noble Hotel-Restaurant Obauer eine lohnende Anlaufstelle in Werfen. Untergebracht ist es im ehemaligen Lebzelterhaus der Marktgemeinde, also jenem Haus, in dem der Lebkuchenbäcker einst seinen Betrieb hatte. Doch auch andere Produkte aus Honig wurden von den Vertretern jener Zunft hergestellt. Die kulinarische Tradition besteht somit schon seit langer Zeit.

Was den werten Gästen während des Verzehrs ihres sicher hochwertigen, wenn auch nicht ganz billigen Mahls wohl eher nicht erzählt wird, ist ein Kriminalfall, der sich in dem bewussten Haus zur Mitte des 19. Jahrhunderts ereignet hat.

Und sogar dieser hat etwas mit Nahrungsaufnahme zu tun.

 

Reisen wir zurück in das Werfen des Jahres 1833. Damals kam ein 30-jähriger Mann mit großen Plänen in den Ort. Sein Name war Johann Oberreiter, er war Lebzelter von Beruf und stammte aus dem nahen Dienten am Hochkönig. Einerseits hatte er ein kleines Vermögen von ein paar hundert Gulden angespart, andererseits verstand er durchaus etwas von seinem Beruf. Sein Plan war, diese beiden Trümpfe auszuspielen, um sich an die knusprige 26-jährige Lebzelterswitwe Maria Schintelmaißer heranzumachen und so schnell und ohne großen Aufwand zum Unternehmer aufzusteigen.

Er war dabei äußerst erfolgreich und schon im Jahr seiner Ankunft in Werfen heiratete er seine Chefin. Diese war angeblich alles andere als eine angenehme Zeitgenossin, doch Johann Oberreiter nahm das gelassen: Er duldete cholerische Anfälle und Machtspielchen seiner Ehefrau und war sich für keine Arbeit im Haus zu schade. Nach außen hin trat er als vertrauenswürdiger Geschäftsmann auf, bezahlte sämtliche anfallende Rechnungen prompt und sorgte für hohe Produktqualität. Deshalb wurde etwa der Met des Betriebes selbst ins nahe Kapuzinerkloster geliefert. Zur Pflege seines Images zählte auch der Umstand, dass er ein äußerst eifriger Messbesucher war, der seine Frömmigkeit regelrecht zur Schau stellte, dafür jedoch nur äußerst selten im Wirtshaus anzutreffen war. Auf diese Art und Weise erarbeitete sich Oberreiter einen hervorragenden Ruf in Werfen und wurde 1843, zehn Jahre nach seiner Ankunft, sogar zum Bürgermeister gewählt. Fünf Jahre lang übte er dieses Amt tadellos und zur allgemeinen Zufriedenheit aus.

Ein unauffälliges Leben, ein erfolgreiches Leben. Johann Oberreiter hatte alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Vorerst.

 

Aber wie heißt es so schön? Das Glück ist ein Vogerl.

Das musste auch der Lebzelter von Werfen erfahren. Leidvoll. Doch noch nicht unbedingt durch den ersten Schicksalsschlag, der ihn ereilte. Der war für ihn wohl eher eine Befreiung.

1855 starb nämlich seine Frau und Johann Oberreiter wurde alleiniger Besitzer der Lebzelterei. Vier Jahre später, er war mittlerweile bereits 56 Jahre alt, heiratete er erneut – und zwar die als äußerst gutmütig bekannte Chirurgenwitwe Anna Menneweger. Zu dieser Zeit jedoch war der Betrieb bereits in argen Schwierigkeiten: Der Lebzelter hatte Schulden, die Bank gewährte ihm keine Kredite mehr und private Gläubiger forderten ihr Geld von ihm zurück. So sehr es ihm in seiner Jugend hold gewesen war, schien das Glück Johann Oberreiter nun endgültig verlassen zu haben.

Zu allem Überfluss starben im Jahr 1864 knapp hintereinander zwei seiner Kinder: am 26. April seine Stieftochter Eva Schintelmaißer und am 17. Mai seine leibliche Tochter Barbara Oberreiter.

Die Gerüchteküche begann zu brodeln. Und sie brodelte heiß. Zu heiß für Johann Oberreiter.

 

Quelle: kiripic/pixelio.de
Quelle: kiripic/pixelio.de

In Werfen wurde immer lauter gemunkelt, der Lebzelter habe seine Töchter vergiftet. Das kam auch seiner Frau Anna zu Ohren, die vor allem beunruhigte, dass ihr Mann auch im Verdacht stand, seine erste Ehefrau Maria auf diese Weise umgebracht zu haben. In Kombination mit eigenen merkwürdigen Beobachtungen brachten jene Gerüchte Anna Oberreiter dazu, an den Umstand zu glauben, mit einem Mörder verheiratet zu sein – und sie wurde schnell zu seiner lautesten Anklägerin. Der gute Ruf des ehemaligen Bürgermeisters war endgültig dahin. Auch wenn anfangs nichts bewiesen war. Wer jedoch weiß, wie eine ländliche Gemeinde funktioniert, dem muss nicht erklärt werden, dass das Leben für Johann Oberreiter sehr schnell sehr unangenehm wurde.

Geht man davon aus, dass der Lebzelter durchaus nachvollziehbares Interesse daran gehabt haben könnte, seine zänkische Ehefrau und Miteigentümerin des Betriebs loszuwerden, so ist es nicht ganz so einfach zu verstehen, weshalb er seine Töchter hätte töten sollen.

Bei näherer Betrachtung jedoch wird auch das plausibel:

Die meisten seiner Kinder – seine Stieftochter miteingeschlossen – waren körperlich oder geistig behindert. Allein schon deren Pflege dürfte den Mann neben dem Führen der Lebzelterei immer wieder an seine Belastungsgrenzen gebracht haben. Nicht nur psychisch, nicht nur physisch, sondern letztendlich auch finanziell: 500 Gulden (das entspricht etwa 5000 Euro) hatte seine erste Frau im Falle ihres Ablebens den Kindern zugesichert, auch waren sie die Begünstigten einer Hypothek, die auf das Haus der Familie aufgenommen worden war. Somit hatte Johann Oberreiter durchaus gute Gründe, sich seiner Kinder zu entledigen.

So kam es, wie es kommen musste: nämlich zum Prozess.

 

In der Verhandlung wurde minutiös aufgerollt, was zwischen 1862 und 1864 im Lebzelterhaus von Werfen passiert war:

Begonnen hatte alles damit, dass die zu diesem Zeitpunkt 32-jährige Stieftochter des Verdächtigen, Eva Schintelmaißer, bereits zwei Jahre vor ihrem Ableben an Erbrechen und Durchfall erkrankt war. Sie war, wie es in den Akten heißt, durch „gichtische Leiden“ verkrüppelt und auch „geistig sehr mangelhaft entwickelt“. Zwei Jahre lang siechte die junge Frau dahin, bevor ihr Körper aufgab und sie – wie bereits erwähnt – am 26. April 1864 starb. Nicht einmal der behandelnde Arzt Johann Schueller vermutete hierbei Fremdeinwirkung. Als jedoch drei Wochen später die 30-jährige Barbara Oberreiter dieselben Symptome wie ihre verstorbene Halbschwester zeigte und ebenfalls das Zeitliche segnete, dürfte die Stiefmutter, Anna Oberreiter, erstmals Verdacht geschöpft haben. Barbara war laut den Akten eine „vollkommene Cretine“ – sprich mehrfach und zwar schwer behindert. Ein ausgesprochener Pflegefall.

Verdächtig war auch, dass Johann Oberreiter alles daransetzte, die Leiche seiner Tochter so schnell wie möglich unter die Erde zu bringen. Das gab endgültig den Ausschlag, dass seine Frau Anzeige beim Bezirksgericht in St. Johann erstattete. Sie gab zu Protokoll, dass sie glaube, ihr Mann hätte seine Stieftochter und seine leibliche Tochter mit Grünspan vergiftet, da sie ihm zu einer unerträglichen Last geworden seien.

Auf gerichtliche Anordnung wurden beide Leichen obduziert. Pech für den Lebzelter von Werfen: Schon seit 1836 war Arsen bereits in winzigen Mengen in organischem Material nachweisbar. So auch in diesem Fall. Arsenik – eine Arsen-Sauerstoff-Verbindung – war noch im 18. Jahrhundert das wohl beliebteste Gift zur Beseitigung unliebsamer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen gewesen.

Sowohl im Körper der Eva Schintelmaißer als auch in dem von Barbara Oberreiter fanden sich Spuren von Arsen und Kupfer. Beide waren nachweislich vergiftet worden. 

Quelle: KFM/pixelio.de
Quelle: KFM/pixelio.de

Der Lebzelter gab an, dass er mit der Verabreichung des Arseniks den Tod seiner ohnehin sehr schwächlichen Stieftochter nur beschleunigt habe. Auch das Leiden seiner leiblichen Tochter Barbara hatte er mit zehn bis zwölf Tropfen Arsenik lediglich verkürzen wollen. Der ehemalige Vorzeigechrist sprach vor Gericht wörtlich von einem „Liebesdienst“. Nach modernem Sprachgebrauch wäre dies Sterbehilfe.

Ein bis heute heiß diskutiertes Thema.

 

Eine neue Dimension tat sich allerdings auf, als man auch die sterblichen Überreste der Maria Oberreiter, der fast ein Jahrzehnt zuvor verstorbenen Gemahlin des Lebzelters, exhumierte und auf Giftspuren untersuchte. Auch sie hatte vor ihrem Tod ähnliche Symptome wie ihre Töchter gezeigt, deshalb lag die Vermutung nahe, dass Johann Oberreiter sie ebenfalls mit Arsen getötet haben könnte. Allerdings gaben die Gerichtsärzte an, dass ein Giftmord in jenem Fall zwar nicht ausgeschlossen werden könne, aber auch in diversen Gegenständen, die man der Toten mit ins Grab gegeben hatte, Giftspuren gefunden worden seien. Damit war unklar, ob das Arsen von den Grabbeigaben post mortem auf den Körper übergegangen war oder umgekehrt.

Im Zweifelsfalle also für den Angeklagten.

Allerdings nützte ihm das nicht sehr viel: Das kaiserlich-königliche Landesgericht Salzburg verurteilte Johann Oberreiter, Lebzelter, Wachszieher und ehemaligen Bürgermeister von Werfen, wegen Mordes an Stieftochter und Tochter zum Tod durch den Strang.

 

Wer heute im Vier-Sterne-Hotel Obauer absteigt oder sich im Restaurant sein Essen schmecken lässt, kann sich ja im Andenken an den ehemaligen Besitzer des Hauses ein Gläschen Met genehmigen, falls dieser auf der Speisekarte zu finden ist. Während man ihn genießt, empfehle ich, ein wenig darüber nachzudenken, was einen Vater dazu bringt, seine Töchter zu töten.

Was legitimiert Taten wie diese? Wie selbstlos müssen Eltern eigentlich sein? Und letztlich: Was ist gut, was ist böse?

Wohl bekomm's.