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Dämmerungsbetrachtungen

Der gelernte Österreicher keppelt. Er keppelt über das Wetter, die Regierung, die Touristen, die Lebensmittelpreise und über das Fernsehprogramm. Inbrünstig keppelt er auch über die angeblichen Bausünden gegenwärtiger Architekten, über Glasfronten, über Metallfassaden, über moderne Formensprache. Seinerzeit, da hätten die Leute noch Geschmack gehabt, da hätten sie schöne Häuser gebaut. Das Alte, das nostalgisch Anmutende müsse erhalten werden, keppelt der gelernte Österreicher. In früheren Zeiten, da hätten die Menschen noch Respekt vor den Bauten der Altvorderen gehabt. Keine hässlichen, modernen Klötze hätten sich statt den Bauten der vergangenen Generationen in den Städten breitgemacht. Die ehrwürdigen, alten Bauten hätte niemand angetastet. Heilig wäre die Baukunst der Vorfahren gewesen, heilig. 

 

Tja, wie allerdings jeder weiß, der sich etwas mit Architekturgeschichte auseinandersetzt, ist diese Annahme - höflich ausgedrückt - ein wenig unrichtig. Ein perfektes Beispiel hierfür ist die Wiener Michaelerkirche. Pardon, natürlich heißt sie offiziell Pfarrkirche Sankt Michael. 

Sie ist ein in der Bundeshauptstadt rares Beispiel (spät-)romanischer Architektur und damit etwa gleich alt wie die so genannten “Heidentürme” der wohl bekanntesten Wiener Kirche, des Stephansdoms – also etwa achthundert Jahre. Bei einem Stadtspaziergang schlenderte ich unlängst über den Michaelerplatz, den Vorplatz der Hofburg, der (ebenso wie die Gruft der gleichnamigen Kirche) in meiner ziemlich langen Kurzgeschichte “Ein wirklicher Herr” eine durchaus wichtige Rolle spielt. Doch davon ein andermal. Als ich am Eingang der Pfarrkirche Sankt Michael vorbeikam, bemerkte ich, dass das Eingangstor trotz der bereits hereingebrochenen Dunkelheit nicht versperrt war, ein zaghafter Lichtstrahl fiel durch den Türspalt in die Schatten des unbeleuchteten Vorbaus, der das Tor gegen die Unbillen des Wetters abzuschirmen hat. Im Inneren der Kirche war es düster, nur der hintere Teil des Chorraums und die Seitenaltäre waren spärlich erhellt. Ich schaute mich um. Es war unverkennbar: Der Kern des Gebäudes war tatsächlich spätromanisch - manche Säulen und vereinzelte Rundbögen wiesen neben der Gliederung des Raums auf diesen Baustil hin, hoch über meinem Kopf hingegen waren im Zwielicht bereits Spitzbögen zu sehen. Der Übergang zwischen Romanik und Gotik war eindeutig auszumachen. Der Baumeister des dreizehnten Jahrhunderts hatte bereits experimentiert, hatte Alt mit Neu gemischt, Tradition mit Moderne gebrochen. Unwillkürlich musste ich lächeln, kam mir doch die eine oder andere empörte Wortmeldung in diversen sozialen Medien zu zeitgenössischen Bauten in den Sinn, die ebendieses versuchten: althergebrachte Sehgewohnheiten zu durchbrechen. 

Doch dies war noch längst nicht alles. Bei genauerem Hinsehen konnte ich im Dämmerlicht der Kirche die großen gotischen Spitzbogenfenster ausmachen, die (wie man heute weiß) nachträglich aus den alten Wänden gebrochen worden waren, um dem Kirchenraum einen offeneren, mehr nach oben strebenden Charakter zu verleihen. Mit Sicherheit ein Sakrileg in den Augen der spätmittelalterlichen Rundbogenfanatiker. Oder waren die Wienerinnen und Wiener des ausgehenden fünfzehnten Jahrhunderts moderner Architektur gegenüber aufgeschlossener? Man weiß es nicht. 

 

Ich ließ meinen Blick weiter über das Innere des dreischiffigen Baus wandern und siehe da: Wie in vielen Wiener Kirchen fehlten zwar ganz offensichtlich deutliche Umbauten im Stil der Renaissance, dafür bedeckte barocker und klassizistischer Zierat laut und selbstbewusst die klobigen romanischen Wände. Ich musste schmunzeln. Das war durchaus mit dem Fall vergleichbar, dass die denkmalgeschützten Stadt-(heute U-)Bahnstationen eines Otto Wagner von einem modernen Architekten mit Materialien wie Sichtbeton, Nirosta oder verspiegeltem Glas überbaut würden. Das Aufheulen von Yellow Press, konservativen Bezirkspolitikern, Galerie-Otto-Kunden und Fliesentischbesitzern wäre markerschütternd. 

Und trotz – oder gerade wegen – dieses Konglomerats von Baustilen schlug mich der Innenraum der Michaelerkirche an diesem Abend in seinen Bann. An die berühmte Gruft unter meinen Füßen, die so lange das Wunder vollbracht hatte, viele der in ihr beigesetzten Leichen zu mumifizieren, verschwendete ich bei dem Rundgang durch jenes Gotteshaus kaum einen Gedanken. Nur an die mutigen Menschen, die mit neuen Sichtweisen auf das, was sie Schönheit nannten, an die immer wieder gewagte Umgestaltung der Kirche gegangen waren.

Künstler müssen verändern, erneuern und Vorhandenes neu deuten, wenn sie ihre Mitmenschen zum Staunen bringen wollen. 

 

Oder wie Kurt Tucholsky es ausdrückte: 

In der Kunst gibt es nur ein Kriterium: die Gänsehaut.