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Eine dünne Schicht

Der Schnee bedeckt das Land im Norden.

Er bedeckt es so, wie die Zivilisation unsere niedrigen Instinkte bedeckt.

Nur hier und da schimmert der rohe Boden durch das unschuldige Weiß. Nur an jenen Stellen, von welchen wir ihn mit voller Absicht entfernt haben, liegt der Grund in all seiner verdorrten Hässlichkeit vor uns. Und dort, wo ihn die wütende Sonne geschmolzen hat, rinnt der Schnee hilflos in die plätschernden Bäche und gibt das preis, was unter ihm verborgen gewesen ist.

 

Wenn wir uns heute anmaßen, zivilisiert zu sein, wenn wir auf „unsere Werte“ pochen, wenn wir verächtlich auf Kameltreiber, Kanacken, Zigeuner und Bimbos herabblicken, denen wir uns haushoch überlegen fühlen, dann zeugt das primär von grenzenlos mangelnder Bildung respektive einem massiven Intelligenzmanko.

Wer denkt, am virtuellen oder auch realen Stammtisch „unsere Werte“ verteidigen zu müssen, der überlege einmal, was er selbst darunter versteht. Wenn die Antworten dann liebgewordene Feste, traditionelle Speisen, heimische Höflichkeitsfloskeln und ein bestimmter Kleidungsstil sind, dann hat derjenige die Frage selbst nicht verstanden. All das sind keine Werte, es sind Äußerlichkeiten. Äußerlichkeiten, die zum Verständnis der eigenen Identität, zum Verständnis des eigenen Verhaltens ihren Teil beitragen mögen, aber weit entfernt davon sind, Werte darzustellen.

 

Werte werden in unserer Art des Zusammenlebens deutlich:

Wie begegnen wir einander? Welche Freiheiten gestehen wir dem Gegenüber zu? Was erwarten wir von unseren Mitmenschen?

Und daraus resultierend: Was vermitteln wir unseren Kindern, damit sie ein möglichst gelungenes Leben führen können?

Um diese Werte in der Gesellschaft durchzusetzen, haben Staaten Gesetze geschaffen, Regelungen, die festlegen, worauf jedes Mitglied der Gemeinschaft zu achten hat, wo die Grenzen der persönlichen Freiheit enden, um die der anderen Bürgerinnen und Bürger nicht zu gefährden.

 

Blickt man in der Geschichte zurück, so erkennt man deutlich die Schnelllebigkeit dieser scheinbar althergebrachten, altehrwürdigen Werte. Meine Großeltern lebten in einem Staat, der ganzen Bevölkerungsgruppen ihr Menschsein absprach, sie zu Objekten degradierte, über die man beliebig verfügen konnte. Meine Urgroßeltern lebten zu einer Zeit, in der die Herrschaft über Österreich einer einzigen Familie oblag, in einem Staat, in dem man durch Geburt oder Heirat befähigt wurde, über das Schicksal von Millionen Untertanen zu entscheiden.

Doch was sagen uns die Gesetze früherer Zeiten über die Werte, die in unserer Heimat einst galten, über die Werte, die unseren Vorfahren lieb und teuer waren?

Dieses Thema interessierte selbstverständlich auch schon frühere Historiker – und zwar aus den oben genannten Gründen. Um die Werthaltungen früherer Generationen zu verstehen, musste man sich wohl oder übel zuerst die Gesetze ansehen, die zur betreffenden Zeit gültig gewesen waren. Etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts befasste man sich an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien intensiv mit so genannten „Banntaidingsbüchern“ und „Weistumstexten“. Das waren Gesetzessammlungen, die einst in jedem Dorf, oftmals sogar in einzelnen Höfen aufbewahrt wurden und nach denen die Rechtsprechung in früheren Jahrhunderten vonstatten ging. Es wurde damals seltener von städtischen, herrschaftlichen Gerichten Recht gesprochen als vielmehr im Dorfverband direkt. Interne Streitigkeiten unter der Landbevölkerung kümmerten die Obrigkeit wenig. Die schriftlichen Grundlagen zur Rechtsprechung wurden vom Ortsvorsteher aufbewahrt und im Streitfall zurate gezogen.

Beispiele dafür lauteten etwa (in heute verständlicheres Deutsch übersetzt):

 

Ein jeder arme Mann hat Freiheit in seinem Haus, so weit seine Grundstücksgrenzen reichen, auch wenn sie nicht eingezäunt sind. Käme jemand und würde an seinem Haus lauschen, so soll er ihn fragen, was er da tue. Er soll ihn dreimal auffordern wegzugehen. Wenn der Eindringling dem aber nicht Folge leistet und der Hausbesitzer erschießt, erschlägt oder ersticht ihn, dann soll er ihm drei Pfennige auf die Wunden legen. Damit hat er dem Gesetz Genüge getan, auch wenn Gott das anders sieht. (17. Jahrhundert)

 

Wenn jemand einen Grenzstein ausgräbt oder vernichtet, da, wo zwei Dörfer, Städte oder Märkte aneinander grenzen, soll dort, wo der Grenzstein gestanden ist, eine Grube ausgehoben werden. Der Täter soll anschließend bis an die Achseln hineingesetzt werden. Dann schlage man ihm den Kopf über dem Rumpf ab, damit er die Grenze weiterhin mit seinem Körper anzeige. (15. Jahrhundert)

 

Wenn ein Ehemann jemanden beim Beischlaf mit seiner Frau antrifft, so darf er nach Belieben über diesen richten. Wenn er die Sache aber vor Gericht bringt, so soll man die Leiber der Frau und des Ehebrechers aneinanderfesseln und sie beide – den Mann zuoberst – in eine Grube legen. Anschließend treibe man unter Zuhilfenahme eines Schlägels einen Stock durch beide. (15. Jahrhundert)

Das Rechtsverständnis der damaligen Zeiten scheint (betrachtet man die Äußerungen so mancher Zeitgenossen im Internet, aber auch in ganz alltäglichen Diskussionen in der wirklichen Welt) ein nach wie vor unverändertes zu sein. Zu den wenigsten Leuten scheint es sich herumgesprochen zu haben, dass die Gesetze heutzutage nicht dafür ersonnen wurden, um Rache für eine Untat zu üben. Ja, wirklich, diese Zeit ist längst vorbei, die österreichische Gesellschaft hat sich weiterentwickelt – auch wenn das viele nicht wahrhaben wollen.

 

Auf der Website des Justizministeriums wird das Ziel eines modernen, zivilisierten Strafvollzugs so erklärt:

Der Vollzug von Freiheitsstrafen hat zum Ziel, die Gemeinschaft zu schützen und dem Straftäter zu einer rechtschaffenen Lebenseinstellung zu verhelfen. Freiheitsstrafen sollen darüber hinaus das Unrecht der Handlung bewusst machen und als Prävention andere Bürgerinnen und Bürger daran hindern, ähnliche Straftaten zu begehen. Eine Reintegration der Straftäterin/des Straftäters in die Gesellschaft ist dabei immer das oberste Ziel des Strafvollzugs.

 

Die Schneedecke der Zivilisation liegt erst seit einigen wenigen Jahrzehnten über den niedrigen Instinkten des Homo Austriacus, sie ist zart und verletzlich.

Möge sie noch lange halten.