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Über Stock und Stein

Man steigt in der Bundeshauptstadt ins Auto. Das letzte Stück Boden, das die Schuhsohlen berührt haben, ist das Straßenpflaster des Petersplatzes gewesen. Um einen herum die Gerüche der Stadt und mehr oder minder hektische Betriebsamkeit. Menschen, die zu Terminen unterwegs sind oder die nächste U-Bahn erwischen wollen. Der Lärm des Innenstadtverkehrs. Man lenkt seinen Wagen um die Peterskirche, nimmt dann eine der Straßen, die aus der Stadt führen, nach wie vor immer wieder von rot leuchtenden Ampeln kurzzeitig gestoppt. Irgendwann erreicht man die Donauuferautobahn, verlässt Wien Richtung Norden, lenkt sein Fahrzeug dann nach Nordwesten, fährt erst durch das bereits tief ländlich wirkende Weinviertel, bis man nach der Anhöhe des Manhartsberges im Waldviertel angekommen ist. Selbst, wenn man die Geschwindigkeitsbeschränkungen penibel beachtet und bis in den nördlichsten Zipfel dieses Landesteils vordringt, wird die Fahrt nur etwa zwei Stunden in Anspruch nehmen.

Man steigt vor seinem Haus hoch im Norden des Bundesgebietes aus. Die Schuhsohlen berühren nun  Gras, vielleicht sogar etwas Waldboden - je nachdem, wo das angenommene Domizil genau steht.

Man hat eine vergleichsweise lächerlich mühelose Reise hinter sich, die man bequem sitzend und unterhalten vom Autoradio oder der Lieblings-CD durchaus entspannt verlebt hat. Jeder Meter war sorgsam für das Befahren durch Kraftfahrzeuge vorbereitet, jede Abzweigung beschildert, manche Streckenabschnitte hell erleuchtet, keine Kurve zu eng, keine Steigung zu steil, der Untergrund immer verlässlich griffig und fest.

Man betritt sein Haus, zieht die Schuhe aus, die wie erwähnt eben noch den Straßenbelag von Österreichs einziger Millionenstadt berührt haben  und schon bald sitzt man mit einem Buch an seinem Schreibtisch: einem historischen Atlas, in dem man langsam blätternd in der Zeit zurückwandert. Weit. So weit, bis das Österreich vor tausend Jahren vor einem liegt, der Zeit, in der das Waldviertel auf babenbergischen Befehl planmäßig besiedelt wurde.

Und dann geht man die Strecke, die man gerade gefahren ist, in Gedanken noch einmal durch. Natürlich kann man diese vor tausend Jahren nicht in einem Kraftfahrzeug zurücklegen, man müsste sie wohl auf dem Rücken eines Pferdes in Angriff nehmen, wenn man nicht überhaupt zu Fuß zu gehen hat. Doch man entscheidet sich - bequeme Person, die man ist - doch fürs Reiten.

Gesagt, getan:

 

Das damalige Wiener Stadtgebiet umfasst nur einen Teil des heutigen ersten Gemeindebezirks. Die Reise beginnt also - man will ja genau sein - auf dem Friedhof, der die Pfarrkirche Sankt Peter umschließt, das zentrale Gotteshaus des damaligen Wien. Den Stephansdom kennt zu dieser Zeit niemand, da mit seinem Bau noch nicht einmal begonnen worden ist. Eilig führt man sein Reittier vom Gottesacker, denn auch vor tausend Jahren ist es nicht üblich, Pferde auf Friedhöfen zu dulden. Nach dem Verlassen der Stadtmauern durchquert man erst noch einige kleine Dörfer, bestehend aus schilf- und strohgedeckten Holzhütten. Man passiert aufgeregt zur Seite flatternde Hühner und neugierig aus den Türen spähende Kinder, reitet durch Weingärten und schlägt sich schon bald auf schmalen Pfaden durch dicht verwachsenen Auwald, der Donau nach Nordwesten folgend. Was auf den ersten Blick nach einem problemlosen Wegabschnitt ausgesehen hat, entpuppt sich bald als gar nicht so einfach:

Zwar sind die Donauauen nicht unbewohnt, immer wieder stößt man auf kleine Fischersiedlungen und auch der eine oder andere Trampelpfad durchzieht dieses Gebiet und gibt einem ein wenig Orientierung, doch ist der Fluss selbst ja noch nicht reguliert. Das passiert erst über achthundert Jahre später - eine Zeit, die man vor dem Fortsetzen der Reise eigentlich nicht abwarten will. Somit bleibt einem nichts anderes übrig, als immer wieder wassergefüllte Gräben zu durchwaten, Umwege entlang des Ufers in Kauf zu nehmen und Furten zu suchen, wenn man seine Reiserichtung nur halbwegs beibehalten möchte.

Auf diese Art und Weise gelangt man, wenn man von Wien früh genug aufgebrochen ist, etwa in das Gebiet des heutigen Stockerau, wo man - freundliches Bitten oder ein wenig Kleingeld vorausgesetzt - in der Scheune oder dem Stall eines Bauernhofes übernachten kann. Die Menschen, die dort seit kurzem die Urwälder roden und Äcker anlegen, freuen sich auch über die eine oder andere Information aus der Stadt. Manche haben ja Verwandte dort.

 

Solcherart gestärkt und voller Tatendrang, nimmt man am folgenden Morgen den nächsten Wegabschnitt unter die Hufe und Füße. Da die Reise nun aus den Auwäldern leicht bergauf führt, wird die Landschaft trockener und dadurch etwas einfacher passierbar. Die weitläufigen Wälder sind von Wiesen sowie den Feldern vereinzelter Dörfer unterbrochen, sogar recht deutlich ausgetretene Wege sind erkennbar. So kommt man zügiger voran und muss nicht mehr so oft absteigen und das Pferd am Zügel führen wie noch am Tag zuvor.

Trotzdem würde man sich wünschen, die Römer hätten seinerzeit ihren Einflussbereich auch auf die Gebiete nördlich der Donau ausgeweitet. Dann wäre - wie es weiter im Süden der Fall ist - das Straßennetz zwar nicht mehr in perfektem Zustand, aber zumindest noch vorhanden. Hundert Jahre später  würde bereits eine Handelsstraße nach Horn führen, doch weder will man so lange warten, bis diese gebaut ist, noch würde diese die technische Qualität der römischen "viae" besitzen. Aber auch so ist man bereits vor Sonnenuntergang in Maissau, einem Dorf, dem in den nächsten Jahrzehnten ein massiver Aufschwung bevorstehen wird. Das noch etwas ungeschlachte "feste Haus" wird der Sitz eines sehr einflussreichen Geschlechts werden - und auch der Weinanbau gelingt an den Hängen des Manhartsberges, der am nächsten Tag erklommen werden muss.

Von nun an werden die Wälder wieder dichter, das Vorankommen schwieriger. Kaum eine nennenswerte Ansiedlung findet sich in dem Meer aus Bäumen, das nun vor einem liegt, wenn man von der Höhe des Manhartsberges Richtung der ursprünglichen Version der Stadt Horn blickt, einer kleinen Kirchensiedlung, die damals gerade im Bereich des heutigen Friedhofs um die Kirche St. Stephan entstanden ist.

Erst in den folgenden Jahren werden immer mehr Pioniere in dieses Land vordringen, es urbar machen, Dörfer errichten, dann Herrensitze, dann Klöster. Sie werden die heidnische Bevölkerung, die in den Wäldern haust, zu ihren Untertanen machen, slawische, germanische und keltische Traditionen christianisieren, Gesetz und Ordnung der Babenberger durchsetzen.

 

Doch noch ist es nicht soweit. Noch ist es ein wildes Land, das man durchquert, ein Land voller Geheimnisse und Gefahren.

Wilde Tiere, Menschen, die uralten Religionen anhängen, keine ausgebauten Reiserouten - ein entspanntes Vorankommen sieht anders aus. Die Blicke sind bei jedem Schritt einerseits auf den Boden vor einem gerichtet, andererseits gilt ein Großteil der Aufmerksamkeit aber auch dem Dunkel hinter den Baumstämmen, jedem Rascheln im Unterholz, jeder Bewegung im Zwielicht des Waldes. Solcherart kommt man an diesem Tag bis in die Gegend der Wild, einem Gebiet, das diesen Namen nicht umsonst trägt - und das bis heute. Dort lagert man, verbringt die Nacht im Schutz eines wärmenden Feuers, das zugleich die Raubtiere abhalten soll, die jenes Waldgebiet durchstreifen.

Am nächsten Tag, dem vierten, geht die Reise weiter: Immer öfter werden die dichten Wälder nun von offenen, nur niedrig bewachsenen Flächen unterbrochen, die auf den ersten Blick ein einfacheres Vorankommen zu versprechen scheinen. Als mittelalterlicher Reisender weiß man allerdings, dass diese Bereiche noch um ein Vielfaches gefährlicher sind als die Dunkelheit der Waldgebiete - es sind Moore. Wer in ihnen wandern will, muss das Gelände und den Bewuchs lesen können. Man klettert, springt über Gräben, weicht den tückischen Löchern so gut wie möglich aus. Ein Verschnaufen in dieser Landschaft der Täuschungen ist nur auf den trockenen Inseln möglich, die da und dort aus dem Morast ragen. Noch schwieriger wird das Vorankommen, da man ja ein Pferd am Zügel führt, ein Tier, das durch sein Gewicht noch gefährdeter ist, an einer nicht tragfähigen Stelle einzusinken und sich nicht mehr befreien zu können. War ein geradliniges Reisen im Wald bereits schwierig, so wird es in den immer häufiger und vor allem weitläufiger werdenden Moorgebieten endgültig unmöglich.

Kein Wunder, dass später über Jahrhunderte hinweg unglaublicher Aufwand in die Trockenlegung dieser Landschaften gesteckt wurde. Die zahllosen Teiche des Waldviertels zeugen bis heute von jener Arbeit und dem Versuch des Menschen, die Umgebung an seine Bedürfnisse anzupassen.

 

Zur Zeit dieser Reise jedoch hat hauptsächlich die Natur die Landschaft geformt und man muss sich ihr körperlich wie geistig anpassen. Somit ist es ein mühseliges Vorantasten, das einem nicht allzu oft erlaubt, sein Reittier auch als solches zu verwenden. Morast, dichtes Unterholz, steile Abhänge und Anstiege, Flüsse, all das lässt einen kaum abschalten, zusätzlich zur stets präsenten Gefahr durch Tiere oder feindselig gesinnte Menschen.

Man kommt an diesem Tag bis in die Gegend um Waidhofen, in der bereits einige kleine Ansiedlungen existieren. In einer Hütte auf einer Waldlichtung, die teilweise zum Anbau von Getreide kultiviert ist, verbringt man die Nacht.

Am nächsten Morgen heißt es früh aufstehen, immerhin möchte man ja die letzte Tagesetappe in einem Stück schaffen und nicht noch eine Nacht unterwegs verbringen müssen. Man hat sich wirklich beeilt, hat alle Möglichkeiten ausgenützt, schnell voranzukommen - und doch weiß man: Die Reiseroute war nicht optimal gewählt, auch wenn sie die kürzeste war. Einige Umwege in Kauf zu nehmen und dafür auf dem Wasserweg bequemer voranzukommen, wäre eine durchaus denkbare Alternative gewesen. Doch nun ist man bereits zu weit, um an diesem Umstand noch etwas zu ändern.

 

So wandert, klettert, watet und reitet man an diesem sechsten Tag seiner Reise noch Kilometer um Kilometer, bis man kurz vor dem endgültigen Vergehen der Abenddämmerung vor seinem Haus ankommt. Oder besser gesagt an der Stelle, an der dereinst - in vielen hundert Jahren - dieses Haus einmal stehen wird.

Mitten im Nirgendwo schließt man erschöpft die Augen, müde, ausgelaugt von unzähligen Schritten, vom Kampf gegen eine Landschaft, der man in diesen Tagen der Wanderschaft näher gekommen ist als je zuvor in seinem Leben.

 

Irgendwann, es ist bereits weit nach Mitternacht, öffnet man seine Augen wieder. Der Kopf ruht auf dem historischen Atlas, ein Arm liegt taub auf der Tischplatte, der andere ruht auf den Oberschenkeln. Das Genick schmerzt, als man den Kopf hebt und aus dem Fenster seines Hauses blickt, wo man den zarten Lichtreflex der Schreibtischlampe auf dem Lack des dort geparkten Autos erkennen kann.

"Gott sei Dank!", sind die letzten Worte, bevor man sich auf die Wohnzimmercouch bettet, um auch den restlichen Nachtschlaf nachzuholen. "Gott sei Dank!"